Neuigkeiten 18.09.2023

Die große Nillson-Reeperbahn Festival-Preview: Läuft, wenn’s so läuft!

Dass nach einem so vollen und reich gedeckten Festivalsommertisch noch Energie übrig ist, kann nur an einem liegen: Da kommt ja noch das Reeperbahn Festival! Hamburgs großes Branchentreffen bietet wieder über 700 Konzerte an vier Tagen – da wird man auch mit einer kleinen Laufplanempfehlung unsererseits definitiv nicht nur die Übersicht verlieren, es wird auch wieder ein grandioses Potpourri aus verpassten Gelegenheiten, wundervollen Begegnungen und überraschenden Entdeckungen. Kurzum: Die schönste Septemberzeit des Jahres.

Da wir mal davon ausgehen, dass unsere Leser*innen nicht unbedingt zur Delegation der Reeperbahn Festival Conference gehören und ihre Tage auf den vielen Panels, Podiumsdiskussionen und Receptions verbringen, sparen wir schon mal die Hälfte aller Möglichkeiten ein und fokussieren uns auf die Musik. Da gilt wie in jedem Jahr die Qual der Wahl. Zwischen Knust und St. Pauli Kirche liegen immerhin knapp 3 Kilometer, und die sind prall gefüllt mit Ablenkungen, Schnacks, dem einen Konzert das man eigentlich gar nicht sehen wollte, ohne das deine Freunde aber keinen guten Abend haben, Schlange stehen, Alternativkonzepte checken und essen muss man ja auch irgendwann mal.

Da empfiehlt es sich durchaus, die zugegeben reizvollen großen Namen des Festivals eher zu meiden sondern sich auf eine attraktive Entdeckungsreise zu begeben. Nennen wollen wir sie trotzdem: Soul-Queen Arlo Parks zum Beispiel, die Bremer Punk-Institution Team Scheiße, die nimmermüden Schweden von The Hives um Howlin‘ Pelle Almqvist, der dieses Jahr in der Jury des Musiktalentpreises ANCHOR sitzt, vor allem aber die Slowcore-Pioniere Arab Strap und die wundervollen Pretenders um die markante Stimme von Chrissie Hydne. Und auch um die Elbphilharmonie-Konzerte werden wir in diesem Jahr wohl eher einen Bogen machen. Zwar sind die Auftritte von u.a. Altin Gün, JEREMIAS oder Matt Corby in diesem Setting eine vielversprechende Angelegenheit, aber sie sind eben auch recht zeitaufwändig – was man in der Zwischenzeit alles verpasst, nicht auszudenken!

Die hiesige Indie-Szene ist übrigens in diesem Jahr auch wieder abseits aller noch unentdeckten Trampelpfade recht namhaft vertreten. Künstler*innen wie die wunderbare Brockhoff, die zügellosen DIY-Punks Get Jealous oder die derzeit vielgebuchten ENNIO oder Mayberg haben uns bereits durch den Sommer begleitet. Und so schön ein Wiedersehen und Aufleben lassen der erlebten Gefühle sicherlich auch ist: Für uns steht eher das Füllen einer Schatzkiste zur Debatte, mit denen dann eine Reunion im Festivalsommer 2024 umso feiner wird, denn vielleicht waren wir die ersten, die aufmerksam wurden. Für uns Indie-Nerds ein unbezahlbares Attribut, gebt’s ruhig zu.

Ob es mit unserer Laufplanempfehlung klappt, ist natürlich eine ganz andere Frage. Denn das schöne am Reeperbahn Festival ist ja immer auch das Wiedersehen mit alten Freunden und Weggefährten, das Festquatschen und das Stehenbleiben. Das muss man genießen können, und wie so oft im Leben, die Mischung machts. Wir freuen uns jedenfalls unbändig auf vier ereignisreiche Tage auf der Reeperbahn, viel neue Musik, viele warme Umarmungen und einen prall gefüllten Jutebeutel.

Was wir empfehlen möchten:

Mittwoch, 20.9.:

19:30, Knust: Mar Malade
Diesem Duo dürfte man durchaus auch schon vorher mal begegnet sein, bisher hatte es eher die Nachmittags-Slots auf unseren Lieblingsfestivals inne. Aber ein zweiter und genauerer Blick lohnt: Das ist lässig-sommerlicher Indiepop, der die Sonne im Herzen ganz hell strahlen lässt. Beautiful!

21:10, St. Pauli-Kirche: Artur & Vanessa
Es reicht, die beiden Namen zu nennen, die hinter diesem Projekt stehen: Francesco Wilking und Moritz Krämer, our very own Indie Darlings, of Die höchste Eisenbahn, Crucchi Gang oder Tele-Fame und natürlich heißgeliebtem Solo-Output mit einem neuen Projekt, das die wunderbare Geschichte von Artur und Vanessa mit dem gewohnten Charme und ganz viel Liebe erzählt. Muss man sehen.

23:20, UWE: Flawless Issues
Schon lange ist die ganz neue neue deutsche Welle wieder ganz stark im Fokus, mit Edwin Rosen an der Spitze und tollen Bands wie Steintor Herrenchor oder eben Flawless Issues im Gefolge. Letztere singen aber auf Englisch, was sie dann doch wieder von den erstgenannten unterscheidet. Ein starker Trip in tiefste 80er Wave- und Postpunk-Gefilde, düster und wunderschön.

Donnerstag, 21.10.:

16:00, Molotow Club: Tramhaus
Wer die Holländer am Vorabend verpasst hat, bekommt mit etwas Glück beim obligatorischen Dutch Impact Showcase im Molotow eine nächste Gelegenheit. Auch hier regiert der Postpunk, allerdings noch etwas dringlicher und drängelnder als bei den deutschstämmigen Artverwandten.

19:45, Mojo: Orbit
Das wird fantastisch werden. Wenn man am Vorabend Flawless Issues den Vorzug gab, darf man Orbit einen Tag später im immer schönen Mojo Club aka The Batcave genießen. Filigraner Schlafzimmerpop ohne langweilig zu sein, nimmt an die Hand in die Gefühlswelt zwischen Schlaf und Wach, höchst faszinierend.

21:45, Sommersalon: Another Sky
Nicht nur die 80er feiern Revival, auch die 90er sind mal wieder stark vertreten. Hier Gott sei Dank eher mit Grunge und epischem Britpop als mit Eurodance und Gagapop. Vor allem die Foo Fighters lassen bei Another Sky schön grüßen: Beileibe nicht die allerschlechteste Referenz.

22:50, Molotow Club: Paerish
Zugegeben, da muss man rennen, aber die Franzosen von Paerish sind für mich das absolute Must See des Wochenendes. Da steckt so viel drin: Grunge, Emo, Shoegaze und eine nicht mal kleine Portion Pop. Das wird ein Arme ausbreiten und genießen wie bei einer Dredg-Reinkarnation auf Höhe von „Catch Without Arms“ – falls man im sicher rappelvollen Molotow Platz findet.

Freitag, 22.9.:

17:00, Molotow Backyard: Flyying Colours
Zum Aussie BBQ im Molotow lässt man sich freitags ja eh gerne blicken und kann sich eigentlich gut treiben lassen, aber wenn man Bands hervorheben möchte, sind die Flyying Colours aus Melbourne ein absolutes Muss. Dreampop, Shoegaze und Psychedelia vereinen sich zu einer faszinierenden Mixtur, betören und berühren. Wird toll. Nochmal abends um 23:40 in der SkyBar.

17:30, Molotow Club: The Omnific
Mal wieder eine gute spannende Prog- bzw. Postrock-Band gefällig? Dann bitte mal mit The Omnific probieren. Die nicht nur genretypisch ohne Vocals auskommen, sondern spannenderweise auch ohne Gitarren. Dafür haben sie zwei Bässe. Neugierig, wie das Trio auch noch Metal, Funk und Nintendocore in ihr Spektrum mit einfließen lässt? Ich schon!

18:00, Molotow Backyard: Floodlights
Den Aussie-Nachmittag runden Floodlights ab, bei denen man sich schon mal für den Abend in Form shaken kann. Zu 80s-referenziellem Garage Rock, mit dem man ja ohnehin nie irgendwas falsch machen kann und der hier in wirklich äußerst guter Qualität angeboten wird.

20:00, Headcrash: Chalk
Das traditionsreiche Headcrash und irischer Post Punk mit tiefer Düsternis und äußerster Dringlichkeit? Das passt wie die Faust aufs Auge. Auch dieses Genre wurde in den letzten Jahren reichlich gefüttert – dank Bands wie Chalk kriegen wir immer noch nicht genug davon.

21:40, St. Pauli-Kirche: Angie McMahon
Das wird wundervoll: Die großartige Angie McMahon wird ein Konzert in der St. Pauli-Kirche spielen, und wer die Dame aus Melbourne noch nicht kennt, sollte das schleunigst nachholen. Wunderbar persönlicher Songwriter-Pop-Folk; könnte eines der Wochenend-Highlights werden.

23:55, Molotow Backyard: Egyptian Blue
Zum Abschluss geht es nochmal ins Molotow und zu Egyptian Blue. Es ist wieder Postpunk, etwas mehr angereichert mit Krautrock und Shoegaze als z.B. bei Chalk, aber auch wieder sehr treibend und faszinierend. Denn auch dank Bands wie Egyptian Blue kriegen wir immer noch nicht genug davon.

Samstag, 23.9.:

19:30, Indra: William The Conqueror
Gewohnheitsgemäß sind die Reserven am Samstag immer ziemlich erschöpft und man kann es beschaulich ausklingen lassen ohne an Qualität sparen zu müssen. Großartiger Country-Folk mit einnehmenden Indie-Pop-Elementen von William The Conqueror dürften eine gute Wahl sein.

21:30, St. Pauli-Kirche: Bayuk
Seit ich diesen Indiepop-Tausendsassa zum ersten Mal sah bin ich fasziniert von ihm. Das liegt an seiner Gemeinsamkeit mit Konstantin Gropper aka Get Well Soon, trotz ihrer riesigen Unterschiede. Aber beiden gelingen mit großer Qualitätsdichte feierlich-epische Indie-Hymnen mit äußerster musikalischer Versiertheit und hoher Faszination. In der Kirche? We’re on!

23:10, Resonanzraum: Jean-Michel Blais
Und dann zum Abschluss ein schönes Glas Rotwein und Neoklassik im Resonanzraum. Das hat Tradition, das schließt das Wochenende wundervoll ab. Celli, Klavier, cineastische Klangwelten: Augen schließen, wegträumen, Kopfkino einschalten.

Und dann wieder raus in die Nacht und mit den guten Menschen um einen herum die große Nachlese einläuten. Wir wünschen viel Erfolg und sehen uns da!

 

Text: Kristof Beuthner

Foto: Florian Trykowski