Alle Jahre wieder: Vier Tage Overkill und dann ist es auch schon wieder vorbei. Das Reeperbahn Festival hat mal wieder alles versprochen und alles gehalten. Also: Je nachdem wie clever man sich angestellt hat und wie das mit der Impulskontrolle so aussah. Genossen haben wir trotzdem jede Minute. Ein Bericht.
Ja, alle Jahre wieder: Es gibt so Dinge, die wiederholen sich einfach. Da ist mein Start in den rauschhaften Flow des alles-könnte-möglich-sein bei Europas größtem Showcase-Festival in Hamburg, der konterkariert wird durch die unvermeidliche Tatsache, dass bis Mittag ja noch im regulären Job gearbeitet werden muss. So wird es für mich auch am Donnerstag und am Freitag sein und das soll zwar nicht die Hauptrolle spielen, ist aber wie gewohnt ein entscheidender Faktor für Energie und Durchhaltevermögen.
Und beides braucht man unbedingt. Denn die im Vorfeld sorgsam ausgearbeiteten Laufpläne mit Möglichkeit A, B, C und manchmal sogar D sollen ja zumindest kurz den Anschein haben, dass sie realistisch seien. So lang können die Distanzen zwischen Molotow und Uebel & Gefährlich, zwischen Festival Village und St. Pauli-Kirche, zwischen Moondoo und Mojo manchmal sein, wenn man nur 10 Minuten hat um die Location zu wechseln, was allein deswegen sportlich ist, weil voll auf dem Reeperbahn Festival nun mal voll bedeutet, journalistengerechte Fast Lane hin oder her. Wenn man dann auch noch das große Glück hat, Freunden und Bekannten in die Arme zu laufen, ist für den Konzertplan meist sowieso alles vorbei.
Nachdem also der Alltag für den Moment hinter mir liegt stolpere ich direkt nach dem Checkin der ersten Lieblingsperson in die Arme. Es gibt das erste Kaltgetränk des (verlängerten) Wochenendes und einen Blick auf JAS auf der Fritz-Kola-Bühne im Festival Village. Das gerät allerdings mit seinem allzu geläufigen Mix aus Indie Pop und Rap etwas beliebig sodass erstmal in Ruhe angekommen wird. Im Festival Village, neben dem Spielbudenplatz der zentrale Treffpunkt für Festivalbesucher*innen und – dieses Jahr mit einem noch breiteren Konzertangebot – auch Interessierte ohne Ticket, hat sich ein bisschen was verändert. Das Spiegelzelt ist weggefallen, dafür ist mit der Acoustic Stage aber ein von Containern umrahmter neuer Spielort dazu gekommen, der Sinn ergibt und Spaß macht. Auch am Mopo-Bus kann man hier jetzt Konzerte for free schauen. Genau wie an der TikTok-Bühne, die allerdings vor allem laut ist und ständig über alles drüber lärmt. Für die überschaubare Menge an Menschen, die sich davor aufhält, wirkt das Ganze eher wie keine sinnvoll erweiternde Neuerung.
Ich wandere zum ersten Mal zum Spielbudenplatz, wo am zentralen musikalischen Sammelpunkt, der Spielbude XL, gerade das Bavarian Showcase stattfindet. Da halte ich mich kurz bei SEDA auf, sehr stimmiger Mix aus Folk und Indie Pop, das gefällt. Und dann fängt auch schon das klassische Dilemma an: Sowohl Plan A, Erland Cooper in der St. Pauli-Kirche, fällt aus als auch Plan B, der Post-Hardcore von Leave im Headcrash. Schon bin ich auf eine wohlbekannte Weise lost und entscheide mich, den Festivalstart einfach doch in der Kirche zu begehen. Dort vertritt Hayden Thorpe den verhinderten Contemporary Artist. Thorpe ist bekannt als Sänger der Band Wild Beasts und hat erst 36 Stunden vor seiner Show von selbiger erfahren. Alleine an Klavier und Gitarre im Wechsel spielt er sehr filigranen Folk und erläutert ausgiebig, wo er thematisch mit seinem neuen Album hin will – das ist absolut schön und stimmungsvoll, ein höchst gelungener Opener für mein Reeperbahn Festival.
Weil es Zeit für einen Snack wird, führt mich mein Weg kurz zurück zum bayerischen Showcase und (nebenbei) dem sehr stimmigen, fein melodiösen Indie Pop von CECI bevor ich mich für den weiteren Abend ins Molotow bewege. Das muss ja nochmal genossen werden bevor es um die Jahreswende herum den Standort wechselt, aber dass es weiter existieren darf ist nach wie vor eine richtig gute Nachricht. Come what may: Hier stehen erstmal Pacifica aus Buenos Aires im Backyard, deren Mix aus Indie Rock und Power Pop ziemlich gut nach vorne geht; es folgen Mary In The Junkyard aus London im Club, und das ist schon ein ziemliches Highlight, gleichzeitig rough und fragil, dabei sehr energetisch, irgendwo zwischen Indie- und Art Rock, das gefällt sehr. Draußen spielen anschließend noch Divorce aus Nottingham, deren im Ankündigungstext angepriesenen Alternative Country man gar nicht so sehr heraushören mag. Das macht aber nichts, dafür klingt das sehr nach Indie Rock der ganz offensichtlich seine Inspiration aus den 90ern zieht, und das ist ein richtig guter Abschluss für den Festival-Mittwoch, denn der Heimweg (und der Job am nächsten Morgen) rufen – auch, wenn der Verzicht auf Kapa Tult und Rum Jungle schmerzen. Das Molotow ist definitiv ein absoluter go-to-and-stay-Ort an diesem Abend gewesen.
Der Donnerstag droht kompliziert anzufangen weil mit mir gemeinsam gefühlt jede*r Autobesitzer*in der Region den Weg nach Hamburg antreten will und ich doppelt so lange brauche. Pünktlich zu einem meiner wichtigsten Must-sees stehe ich aber dann doch wieder auf dem Heiligengeistfeld: Leocardo DiNaprio mögen einen Bandnamen aus der Wortspielhölle haben und sich mit italienischsprachigen Anmoderationen kurzzeitig wie eine düstere Version von Roy Bianco & den Abbrunzati Boys anfühlen; der Sound ist zwischen Indie Rock und NNDW à la Edwin Rosen sehr präzise und zwingend; die könnten mir im nächsten Festivalsommer auch noch sehr gut gefallen.
A propos: Zu meinen Pflichtterminen gehört traditionell der Helga!-Award, wo jährlich in verschiedenen Kategorien die besten Festivals des Sommers ausgezeichnet werden. Zwar findet die Verleihung aufgrund des wegreduzierten Spiegelzeltes jetzt wieder im eher ungemütlichen Neo House (in Wahrheit ein großes Schützenfestzelt) statt, die Stimmung ist aber trotzdem gut. Den Award für die „Gemischteste Tüte“ holt sich das SNNTG Festival, den für das „Feinste Booking“ gewinnt Tapefabrik und zur „wohligsten Wohlfühloase“ wird das Für Hilde Festival erkoren. Das geliebte Orange Blossom Special wird für seine Nachhaltigkeitsarbeit mit dem Preis für die „Grünste Wiese“ ausgezeichnet und eine berührende Ansprache über die Widerstände, gegen die iranischstämmige Frauen zu kämpfen haben, gibt es von den Organisator*innen des Hastam – Just because I am, das in der Kategorie „Unerschrockenste Haltung“ gegen Rock gegen Rechts und das Kein Bock auf Nazis gewinnt und ebendiese Frauen auf sowie hinter der Bühne in dieses Festival mit einbindet, das ist sehr beeindruckend. Wichtig sind sie in diesen Zeiten alle. Nach einem äußerst netten Pausenprogramm mit dem Hamburger Kneipenchor geht der Preis für das Beste Festival 2024 an das Summerbreeze, also eine lupenreine Metalrutsche, deren Crew sich überaus berührt zeigt und unisono das gesamte Zelt für ihre wunderbare Arbeit in der Festivalbranche preist. Das kann man nur unterschreiben. Persönlich spannend für mich: Ich habe wieder etliche Festivals kennen gelernt die ich vorher nicht auf dem Schirm hatte und die dann möglicherweise nächstes Jahr mal einen Ausflug wert sind, weil ich lernen durfte, warum sie sich lohnen.
Musikalisch wartet heute nicht mehr viel, ich lasse mich ein wenig treiben. Zunächst zu Neumatic Parlo ins Häkken – hier wird zwar sehr stilsicherer 80er-referenzieller Postpunk-New Wave-Krautrock geboten, die Performance wirkt allerdings nicht auf die gute Art unnahbar. Mit TOUCHED werfe ich auf dem Spielbudenplatz einen Blick auf eine koreanische Band die klingt als hätte sie den female Folkpop der 90er ganz frisch entdeckt, das gefällt durchaus sehr. Die liebgewonnene Philine Sonny leidet an der Fritz Kola!-Bühne, ganz allein mit der Gitarre und somit prinzipiell sehr anheimelnd aufgestellt, unter quatschender Laufkundschaft und der parallel bespielten Tiktok-Bühne und deren knallenden Technobeats. Das passt nicht zusammen und ich entscheide mich für mein Bett.
Der Freitag wird dann endlich der erste erhoffte kleine Konzertmarathon. In die Moonpools stolpere ich auf dem Spielbudenplatz fast zufällig hinein, obwohl ich sie eigentlich auf dem Plan stehen hatte: Das ist sehr schöner Dreampop mit ein bisschen Shoegaze, ich fühle mich mehr als einmal an Slowdive oder in den ruhigeren Momenten an Mazzy Star erinnert. Das gefällt sehr. Mika Noé am Reeperbus bringt mal wieder Indie Pop und Rap zusammen, aber davon hört man derzeit einfach zu viel ähnliches. Ganz wunderbar wird es dann allerdings wieder bei BLUAI im Bahnhof Pauli: Das belgische female Trio hat innerhalb eines Jahres die drei wichtigsten Musikwettbewerbe in Belgien für sich entschieden; das klingt mit seinen Anleihen aus Country, Folkpop und Americana nach einem langsam schwindenden Sommer am See; sehr schön und innig.
Vom Bahnhof Pauli geht es mit einem kleinen Snack zwischendurch rüber ins Molotow um Leocardo DiNaprio noch einmal im Backyard und in etwas länger zu lauschen, aber es gibt Stromprobleme und die Show beginnt erst später und nicht ohne die Angst, jederzeit beendet werden zu können. Ich spaziere ins Festival Village und besuche dort Marlo Grosshardt, der in diesem Jahr vielleicht die größte Schnittmenge fantastischer Texte aufbietet und mit seinem Faber-esken Folk-Indie auch kräftig Haltung gegen Nazis und andere Problemfälle zeigt.
Dass ich ins Mojo noch reinkomme grenzt für mich an ein kleines Wunder, denn die Show von King Hannah gehört sicherlich zu den im Vorfeld meistnotierten. Das Duo (hier heute in Triobesetzung) sorgt seit einigen Jahren für offene Münder, speziell für diejenigen, die für einen faszinierend versierten Mix aus Slowcore, Blues und Psychedelic Rock zu haben sind. Und faszinierend ist dieses Konzert von der ersten bis zur letzten Sekunde, der Laden ist prall gefüllt, der Applaus immens. Die werden wir definitiv wiedersehen. Ein ganz anderes Programm bieten Wallners in der St. Pauli-Kirche. Hier wird in schwelgendem Ambient-Pop eine ganz besondere Messe gelesen, es ist irgendwie düster, aber gleichzeitig strahlend schön. Die Publikumsinteraktion ist allerdings bei Null, so hat man zwischenzeitlich nicht wirklich das Gefühl, angesprochen zu werden, aber stilistisch gehört dieser Sound genau an diesen Ort; das bekommt definitiv auf Platte den ein oder anderen Hördurchlauf.
Sich dann einfach mal Richtung Molotow begeben um die äußerst unwahrscheinliche Chance zu ergreifen, doch noch einen Platz bei Heisskalt zu bekommen: Versuchen konnte man’s ja. Illusorisch ist es natürlich völlig. Die Schlange reicht bis zur Straßenecke und bewegt sich selbst nach Ende der Show keinen Zentimeter. Also verbringe ich die Zeit mit der zweitschönsten Reeperbahn Festival-Beschäftigung: Guten Talks über Gott, die Welt und die Musik. Worth it.
Der Samstag – endlich mal wieder ausgeschlafen und frisch gestärkt im besten indischen Restaurant Hamburgs, dem Maharaja (Werbung Ende!) – fließt gemütlich dahin. Der Nachmittag wird von kleineren Showcases bestimmt, aber nicht wenige suchen sich einen guten Platz vor dem Reeperbus. Hier kann man, kuratiert von N-Joy-Radio, häppchenweise Bands und Künstler*innen kennen lernen, mal lohnt es sich mehr, mal weniger. Master Peace klingt wie eine Mischung aus Bloc Party (mehr) und The Streets (weniger), aber das ist sehr cool, und er nutzt sein 15minütiges Set um den halben Spielbudenplatz zum Tanzen und Mitsingen zu bringen. Esther Graf berührt mich persönlich gar nicht; Mackenzy Mackay, dessen Stimme beim Sprechen sehr an Rob Goodwyn von The Slow Show erinnert (beim Singen dann weniger) steht alleine mit seiner Gitarre da, was der Beschreibung „Post Malone vs. Arctic Monkeys“ dann so gar nicht entsprechen will und trotzdem sehr gut gefällt. Und Sawyer Hill freestyled einen Soundcheck Song und macht mit seinem scheppernden Bluesrock auch absolut Spaß.
Es ist der Tag der Preisverleihungen: Den Keychange-Inspiration-Award schnappt sich Alli Neumann, die bereits bei der Opening Show im Stage! Operettenhaus aufgetreten war. Der Anchor-Award für den besten Liveact des Jahres ging an strongboi, mit Sängerin Alice Phoebe Lou eigentlich nur so halbe Newcomer, die sich aber gegen starke Konkurrenz durchgesetzt hatten. Und eine ganze Flut an Preisen gibt es beim VIA, dem Kritiker*innen-Preis der unabhängigen Musikbranche. Uche Yara wird hier als beste Newcomerin geehrt; zum besten Label wurde Habibi Funk gekürt und als bester Act wurde Orbit ausgezeichnet, was ich persönlich hochverdient finde, denn was dieser Künstler inzwischen mit seinem faszinierenden Electronic-Indie für Kreise erschließt, ist wirklich aller Ehren wert: Vom kleinen Achim in Niedersachsen bis in die USA und Kanada und auf einen sehr beeindruckenden Gig beim BBK Live Festival in Bilbao, wo ich im Sommer dabei sein durfte als er von anfänglicher Skepsis beim spanischen Publikum bis zu stehenden Ovationen zum Abschluss alles erspielte was irgendwie möglich war. Bestes Album wurde übrigens „Hold On To Deer Life, There’s a Blcak Boy Behind You“ von Kabeaushé, einem kenianischen Künstler den ich bisher so gar nicht auf dem Schirm hatte, dessen Rap-EDM-Experimentierwut aber äußerst spannend klingt; heavy rotation empfohlen.
Für mich persönlich endet der Festivaltag natürlich extra stimmungsvoll, weil meine Tiny Wolves höchstselbst es sind, die ihn für mich zu Ende bringen. Das Chor-Band-Projekt existiert tatsächlich in dieser Form vor allem deshalb, weil beim Reeperbahn Festival 2018 die Idee entstand, es beim Orange Blossom Special 2019 auf seine erste Festivalbühne zu stellen. Inzwischen sind die Tiny Wolves Dauergast auf den (nord-)deutschen Stages, von Appletree Garden über Lunatic Festival bis Rocken am Brocken, und hier hat das alles angefangen: Da schließt sich heute quasi ein Kreis. Vor der Hangarbühne ist es gut gefüllt, im Dunkeln spielen wir höchst selten, das ist sehr stimmungsvoll und macht extrem viel Spaß.
Und weil es dann natürlich doch noch nicht reicht mit Konzerten gibt es sozusagen als „Abschluss Plus“ noch einen Blick auf Kasi, für den die Spielbude XL eigentlich inzwischen viel zu klein ist. Es ist rappelvoll, der Junge hat sich halt (zurecht!) einen Namen gemacht, aber für die Nicht-Ticketinhaber*innen ist es natürlich schön, im Rahmen des Reeperbahn Festivals noch eine so namhafte Besetzung für eine free show serviert zu bekommen. Seine Homies Antonius (eh immer dabei), Aaron und Vince schauen auch vorbei, fehlt eigentlich nur noch Zartmann selbst.
Dann ist das Reeperbahn Festival 2024 vorbei und der Kopf muss erstmal ausruhen. Ein ziemlich großer Erfolg war das wieder, noch internationaler, noch vielseitiger, musikalisch mit noch mehr Nischen, die erkundet und entdeckt werden wollten, und wenn man in der Lage war, sich treiben und auf alles einzulassen, ist der Goodie Bag voll mit Inspirationen und Neuentdeckungen. Und genau für sowas lieben wir das ja. Vorfreude aufs nächste Jahr? Jetzt schon wieder komplett am Start.
Text und Foto: Kristof Beuthner