Artikel 15.10.2018

Nillson-Throwback! Die allerbesten Platten von 2008-2018: Platz 30 bis 16

In meinen zehn Nillson-Jahren hat sich eine ganz schöne Menge an Lieblingsplatten angesammelt. Die möchte ich gerne in den nächsten Wochen mit euch teilen: Lest hier den vorletzten Teil über meine 151 besten Alben von 2008 bis 2018.

Ich als Jahrescharts-Spezi war in den letzten zehn Jahren verantwortlich dafür, den Autoren auf die Füße zu treten um eine standfeste Bestenliste zusammenzutragen, auszuwerten und in Rangfolge zu bringen. Das hat mir schon Spaß gemacht, da war ich noch gar kein Teil des Nillson-Teams. Was liegt da näher als die 151 besten Scheiben (plus eine außer Konkurrenz), die mir in der vergangenen Dekade zu Ohren gekommen sind, nun für euch zu ranken?

Ihr findet hier den nächsten Teil einer Liste, die komplett subjektiv und ohne Allgemeinheitsanspruch gilt. So gesehen werden mit Sicherheit einige Platten fehlen, die ihr als einflussreicher, größer oder brillanter erachtet. Dafür könnt ihr euch mit mir erinnern, verlorene und vergessene Schätze bergen und eine kleine Zeitreise unternehmen. Geht los! Lest hier und heute die neunte von zehn Runden und gebt euch die Plätze von 30 bis 16.

Platz 30: William Fitzsimmons - Lions (2015)

Nichts von dem, was Vorzeige-Langbart William Fitzsimmons, veröffentlicht, macht sich irgendwelcher Innovationen verdächtig, und kaum jemandem mag man das weniger ankreiden. Denn was dieser Mann mit seiner butterweichen Stimme an Behaglichkeit erzeugt, sucht Album für Album seinesgleichen, und nie klang er dabei besser und umarmender als auf „Lions“. Eine Platte für die allerschönsten Momente im Lieblingssessel, das mit „Fortune“ eine Single bot, die für seine Verhältnisse fast schon Tempo hatte. Ich spielte den Song einmal mit Begleitung von vier Mädchen aus meinem Kinderchor, so hat er für mich natürlich eine extra große Bedeutung. Zwischen Gitarren- und Folk-Pop steht William Fitzsimmons fraglos für eine Menge Stereotype, aber sein Songwriting ist über jeden Zweifel erhaben, zutiefst innig und sehr intensiv.

Platz 29: Gisbert zu Knyphausen - Das Licht dieser Welt (2017)

Nach sieben Jahren veröffentlichte Gisbert zu Knyphausen endlich sein drittes Album, mit dem er einem ein weiteres Mal vor Augen führte, dass es so einen wie ihn derzeit nicht nochmal gibt: Die zwischen dem Wunder der Geburt („Das Licht dieser Welt“) und dem letzten Atemzug und der darauf folgenden, wahrhaftigen und ewigen Freiheit („Unter dem hellblauen Himmel“) schwankenden, mit satten Bläsern deutlich pompöser arrangierten Geschichten berühren ein weiteres Mal zutiefst, lassen den Kloß im Hals anschwellen und bewegen nachhaltig. Wenn ein Papa in „Sonnige Grüße aus Khao Lak, Thailand“ die Einsamkeit in der Großstadt kaum erträgt, während sein Töchterchen sich in der Welt herumtreibt und den Mann bis Weihnachten vertröstet, möchte man ganz dringend sofort zuhause anrufen. Das Album ist ein zutiefst menschliches, aufwühlendes und betörend schön geschriebenes Wunderwerk, das erst so richtig deutlich machte, wie sehr dieser Gisbert zwischendurch vermisst wurde.

Platz 28: Gary - One Last Hurrah For The Lost Beards Of Pompeji (2010)

Eigentlich wollte ich diese Platte gar nicht hören, weil ich singenden Schauspielern nicht vertraute. Für Robert Stadlober machte ich eine Ausnahme, im Zug bei strahlendem Sonnenschein, und je länger das zweite Album seiner Band Gary lief, desto breiter wurde das Grinsen in meinem Gesicht. Wie viel Spaß muss das bitte gemacht haben, diese derart wärmenden, sommertagsverliebten und Sixties-retrospektiven Popsongs zu schreiben? „Don’t leave me in the summer, leave me in the winter when I’m down anyway“ - Gary nahmen sich dazu auch noch nicht mal zu ernst, sondern ließen das grandiose Songwriting den Charmefaktor übernehmen. Gaga-Songtitel wie „If God Invented The Imbus Popimbus, Then Where Is He Now?“ machten es leicht, das Album nicht für voll nehmen zu wollen, aber „One Last Hurrah“ war Indiepop in seiner schönsten Form, ehrlich und umarmend und mitreißend und gesegnet mit wunderschönen Melodien, die bei mir den ganzen Sommer 2010 rauf und runter liefen und es noch heute tun.

Platz 27: Federico Albanese - The Blue Hour (2016)

Der Mailänder Pianist Federico Albanese, der inzwischen in Berlin lebt, eröffnete mit seinem zweiten Album „The Blue Hour“ das damals taufrische Neoklassik-Label Neue Meister. Einen schöneren Start hätte man sich dort wohl kaum wünschen können: Mit der ihm so eigenen Mitte zwischen Ambient und elegischem Klavierspiel vertonte Federico Albanese auf wunderbar nachdenkliche Weise das in ihm ringende Wechselspiel zwischen Lethargie und Aufbruchswillen, wie man es in der blauen Stunde beim Übergang zwischen Tag und Nacht empfindet, wenn die abendliche Ruhe vom hektischen Tag ebenso verheißungsvoll erscheint wie das brodelnde Nachtleben einer Stadt vom Format Berlins. So ließ und lässt sich „The Blue Hour“ auch für uns ganz individuell an unsere Stimmung anpassen und je nach Allgemeinzustand immer wieder neu lesen und genießen.

Platz 26: Olafur Arnalds - And They Have Escaped The Weight Of Darkness (2010)

Indem er seinen traumwandlerischen Piano- und Elektronik-Arrangements in Arnor Dan auf „For Now I Am Winter“ eine Stimme hinzufügte, nahm der Isländer Olafur Arnalds seinen Stücken die Suggestivkraft, die ein Album wie „And They Have Escaped The Weight Of Darkness“ zu seinem Meisterwerk gemacht hatte. Tieftraurig und elegisch fügte Arnalds dezente Ambient-Flächen, getupftes Klavier und aufs Schönste Tränen ziehende Streicher zusammen und erklärte einem nur durch das Erzeugen von Tönen, dass das Unstete in den inneren Gefühlslandschaften kein Makel ist, sondern das Leben zu dem Wechselbad an Eindrücken und Erlebnissen macht, das es schließlich ist. Der Albumtitel gab es vor, aus der Dunkelheit gibt es ein Entkommen - mit diesem wundervollen Soundtrack an der Seite konnte uns nichts passieren. So gut war Olafur Arnalds nie mehr davor und nie wieder danach.

Platz 25: Zinnschauer - Hunger.Stille (2015)

Nach einem im Eigenvertrieb veröffentlichten Album und einer starken Split-EP mit The Hirsch Effekt erschien im Januar 2015 endlich die erste reguläre Platte von Jakob Amrs Projekt Zinnschauer. Nachdem sich Amr, inzwischen übrigens als Sänger der Leoniden schwer erfolgreich, auf seinem Debüt „Kalter Blick, scharfer Zahn“ dem allzumenschlichen Verfall widmete, spinnt er den Faden einer in den quälenden letzten Zügen liegenden Beziehung seiner „Ich bin deine wachsenden Arme“-EP auf „Hunger. Stille“ weiter. Zur akustischen Gitarre, der er tatsächlich Mars Volta-eske Strukturen entlockt, schreit und fleht Amr in höchstem Maße kathartische und dabei zutiefst poetische Texte, den letzten Strohhalm fest umklammernd und so intensiv ehrlich, dass das Zuhören schmerzt. Wurde auf der EP das gute Ende der Krise noch leicht angedeutet, ist hier von Hoffnung keine Spur mehr. Dass Amr in der Lage ist, seine Seele so authentisch und zeitgleich zutiefst poetisch zu entleeren, macht ihm zu einem der besten Texter unserer Zeit. Einer der talentiertesten Musiker ist er eh.

Platz 24: Rauelsson - Vora (2013)

Nachdem der Spanier Raúl Pastor Medall zuvor auf einigen EPs in Zusammenarbeit mit Peter Broderick und Nils Frahm spanische Texte zu reduziertem Ambient Folk arrangiert hatte, veröffentlichte er 2013 über das kleine Berliner Label Sonic Pieces eine cineastisch-elegische Klangpalette namens „Vora“, die kleine, angedeutete Piano-Melodien, breite Orchester-Passagen, pluckernde Synthie-Beats und schmeichelnde Streicher in sphärischen Soundscapes zusammenfasste. Olafur Arnalds, der „Fountain“-Soundtrack von Clint Mansell oder die spielerische Leichtigkeit Nils Frahms: Rauelsson schuf mit „Vora“ einen wunderbaren Begleiter zum selbstreflektiven Alleinsein, klingt trotz seiner großen klanglichen Bandbreite zuweilen schmerzlich karg und pur und schafft durch seine suggestive Aussagekraft eine Atmosphäre purer Katharsis. Eine meiner allerwichtigsten Contemporary-Platten ever.

Platz 23: Bon Iver - For Emma, Forever Ago (2008)

Mit „For Emma, Forever Ago“ wurde Justin Vernon alias Bon Iver zur Blaupause für den nachdenklichen Neo-Folkie mit langem Bart und kariertem Hemd. Dazu gehört natürlich auch die Entstehungsgeschichte der Platte; Vernon hatte sich in seiner schwersten Lebenskrise schließlich zum Nachdenken und Schreiben in eine einsame Waldhütte zurückgezogen. Ein Klischee zu kultivieren, war dabei sicherlich nicht seine Absicht gewesen. Wie dem auch sei: Auf „For Emma“ finden sich einige der wunderschönsten Songs, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind; das inzwischen durch ein Cover von Birdy auch in den Mainstream-Charts präsente „Skinny Love“ dürfte wohl jedem ein Begriff sein; für mich ist das schmerzlich-intimste Stück der Platte aber „Re:Stacks“. Vernon singt im zerbrechlichsten Falsett allein zur Gitarre, und gerade durch diese pure Herauskehrung seines inneren Krieges ist „For Emma“ eine so durch und durch intensive Hörerfahrung, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren hat.

Platz 22: Low Roar - 0 (2014)

Wo der Wahl-Isländer Ryan Karazija mit seinem Debüt unter dem Alias Low Roar noch die perfekte Mitte aus Songwriter-Folk und Ambient Pop gefunden hatte, präsentierte sich das Zweitwerk „0“ vor allem durch die Hinzunahme von maschinenähnlichen Drumsounds und Synthesizern eher in der Nähe von Epigonen wie Sigur Rós, was nicht zuletzt auch an Karazijas Falsettgesang lag. Weitaus umarmender klingen die neuen Stücke, wodurch sie nicht mehr ganz so intim wirken wie die des Vorgängers; dafür hat „0“ die einprägsameren Songs im Gepäck. „Nobody Loves Me Like You“ zum Beispiel, oder „I’ll Keep Coming“ und „Easy Way Out“, die Videospiel-Regisseur Hideo Kojima inzwischen als Soundtrack für sein angekündigtes Endzeit-Spiel „Death Stranding“ dienen - eine verständliche Wahl. Wobei „Vampires On My Fridge“ mit seinen beinahe schon am Postpunk kratzenden Klangflächen den längsten Eindruck hinterlässt.

Platz 21: Noah & The Whale - The First Days Of Spring (2009)

Während die Fleet Foxes und Mumford & Sons im großen Folk-Revival der späten 00er die Lorbeeren einheimsten, waren für mich Noah & The Whale die Gewinner. Ihr „The First Days Of Spring“ mag nicht die großgestige Poppigkeit von Evergreens wie Mumfords „Little Lion Man“ in sich tragen, wirkt dafür in seiner Dramaturgie aber wie ein Theaterstück auf mehreren Erzählebenen, was dazu führt, dass ich es in einem Atemzug mit Decemberists-Klassikern wie „Picaresque“ und „The Crane Wife“ nenne. Der an Sigur Rós-Epik erinnernde Opener, das träge schaukelnde „My Broken Heart“ oder „The Love Of An Orchestra“, das von einem Chor vorgetragen wird, sind drei vollkommen verschiedene Stücke, an denen sich die klangliche Vielseitigkeit von „The First Days Of Spring“ schön ablesen lässt - Noah & The Whale ist ein Meisterwerk gelungen, dessen auch emotionale Strahlkraft bis heute anhält.

Platz 20: A Winged Victory For The Sullen - A Winged Victory For The Sullen (2011)

Dass Adam Brayanbaum Wiltzie und Dustin O’Halloran auch viel an Filmsoundtracks arbeiten, lässt sich am Debüt ihres Projekts A Winged Victory For The Sullen überdeutlich ablesen: Ihre Ambient-Flächen und Neoklassik-Träumereien sind nicht weniger als cineastisch und episch zu nennen. Dabei ruhen Stücke wie „Steep Hills Of Vicodin Tears“, „A Symphony Pathetique“ oder das zweigeteilte „Requiem For The Static King“ zutiefst kontemplativ in sich, mischen traditionelle Instrumente wie Bläser oder (natürlich) das Klavier mit tiefdunklen Drone-Landschaften und erzeugen so eine ausnehmend faszinierende Atmosphäre. A Winged Victory For The Sullen zelebrieren die Langsamkeit bis an die Post Rock-Grenzen, ohne dass sich jemals ein antreibender Bandsound aus dem stoischen Wohlklang herauskristallisieren würde. Ein wunderbares Album.

Platz 19: Rivulets - I Remember Everything (2015)

Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Platten von Jason Molinas Songs.Ohia viel zu wenig gehört, als dass ich Nathan Amundsons stärkste Rivulets-Platte als Verwaltung eines großen Erbes auf Anhieb hätte identifizieren können. So zog mich vor allem die sehr nachdenkliche, ja nahezu stoische, aber gleichzeitig wärmende und beruhigende Aura in ihren Bann, die „I Remember Everything“ umgibt. Sehr Lo-Fi und down to earth hüllt Amundson Oneliner wie „My favourite drug Is Sleep“ oder Zeilen wie „So long, summer sun. Lord knows where you’ve gone“ in ein Gewand aus naturbelassenstem Americana, spröde und schwerfällig, schwermütig und wunderschön. Seinem offensichtlichen Idol setzt Amundson dann mit dem siebeneinhalbminütigen „Ride On, Molina“ ein Denkmal und stiftet mich dazu an, mein Plattenregal zu erweitern. Ein wunderbar poetisches, tonnenschwer trauriges Meisterwerk.

Platz 18: The Slow Show - White Water (2014)

Klar, das größte Trademark von The Slow Show aus Manchester ist der tiefe Bariton von Rob Goodwin, der den wunderbar schillernden, zwischen Folk- und Bombast-Pop mäandernden Songs ihres Debüts „White Water“ eine erdige Aura des Wahrhaftigen verleiht. Goodwins Aufarbeitungen von Phasen enormen Zweifelns und innerer Kriege - wie auf dem grandiosen Trennungsstück „Bloodline“, das sich mit Bläsersätzen und der immer weiter gesteigerten Zeile „This is the last time, the last time I call“ von den inneren Dämonen befreit, oder dem von opulenten Chören eingeleiteten „Dresden“. Aber auch sonst steckt „White Water“ voller unvergesslicher, großer Songmomente: „Brother“, „Paint You Like A Rose“ oder das abschließende „God Only Knows“ strahlen vor zeitloser Schönheit. Get Well Soons Konstantin Gropper dürfte diese Platte ebenfalls sehr lieben.

Platz 17: Her Name Is Calla - Navigator (2014)

Die Band aus Leeds war ihren ersten beiden Alben „The Heritage“ und „The Quiet Lamb“ eher ein Kind von Traurigkeit; ihre Gedanken über Tod und die Last des Lebens äußerten sich in ohrenbetäubendem Noise, der das starke Folk-Songwriting übertünchte. Das war ohne Frage faszinierend, aber die klangliche Klarheit, die die Band um Tom Morris auf „Navigator“ erreichte, machte all die Katharsis nun noch greifbarer. Weil man in Bombast-Epen wie „Meridian Arc“ oder reinen Folk-Songs wie „I Was On The Back Of A Nightingale“ die tiefe Traurigkeit durch die wundervollen Harmonien nun noch stärker fühlen konnte, weil sie sich nicht mehr durch diffuse Brachialität, sondern immer wieder in schierer Schönheit Bahn brach. Die triste Weltsicht und die Hoffnungslosigkeit Konstantin Groppers auf Get Well Soons „Vexations“ ist es auch, die „Naviator“ trägt - und die im Titeltrack in von Streichern und Chorälen errichteten Soundwänden einen unvergesslichen Höhepunkt erlangt.

Platz 16: Savoy Grand - Accident Book (2009)

Auch auf „Accident Book“ zelebrieren die englischen Stoiker von Savoy Grand die Langsamkeit. Das ist im Entstehungsprozess jedes einzelnen Albums von Graham Langley und seiner Band so gewesen, und es war auch schon immer gut so. Denn jeder Ton, jeder Klangtupfer, den Langley und Co. in ihre bildschönen stoischen Slowcore-Epen drapieren, jede Zeile hat ihren Platz, jedes Wort steht am richtigen Fleck. Dass „Accident Book“ von 2009 das bisher letzte Lebenszeichen von Savoy Grand darstellt, ist gleichzeitig bezeichnend wie im Grunde egal. Denn die Stimmung, die diese Band zu erzeugen in der Lage ist, entbehrt jeder zeitlichen Einordnung. Die Wahrhaftigkeit von Stücken wie „Fourcandles“, „Day Too Long“ oder dem grandiosen „Last Night On Earth“ hinterlässt einen heute genau so ermattet und glücklich wie vor neun Jahren; die enorm beruhigende Aura jedes einzelnen Savoy Grand-Albums ist konkurrenzlos und tief. Ich würde ein neues Album mit Verbeugung begrüßen - und wäre gleichzeitig total zufrieden, wenn es keines mehr gibt. Jeder Hördurchlauf von Wunderwerken wie „Accident Book“ erzählt die gleiche spannende Geschichte als wäre sie neu.


Text: Kristof Beuthner