Ab Mittwoch ist es mal wieder Zeit, die Synapsen einer nur allzu willkommenen Totalüberreizung zu unterziehen. Einmal mehr lockt Hamburg mit dem Reeperbahn Festival, Europas größtem Musikzenetreffen, sowohl Musik-Aficionados als auch Branchenvertreter*innen mit einem höchst erlesenen Programm zur Partymeile auf St. Pauli.
Das bedeutet wie in jedem Jahr: Wund gelaufene Füße, einen daily Struggle zwischen ambitionierten Laufplänen und unvorhersehbaren Stopps, unverhoffte Neuentdeckungen und lieb gewonnenen Helden, die zwischen all den zukünftigen Lieblingsbands für ein wenig wohlige Gewohnheit sorgen.
Das spannende am Reeperbahn Festival ist jedes Jahr natürlich zuallererst das ausgiebige Studieren des Timetables. Da nimmt man sich gerne einen Abend vorher Zeit und geht gemütlich mit Kopfhörern auf dem Sofa liegend einmal all in. Denn wenn die nächste große Karriere startet, der nächste Festivalsommer entschieden wird oder der erste große Deal auf sicherlich nicht nur eine der rund 150 Bands und Künstler*innen wartet will man doch genau wissen, wo sich das Dabeisein am allermeisten lohnt. Wobei wir jetzt auf die vielen hochspannenden Themen aus dem Conference-Teil des Festivals gar nicht auch noch eingehen können – wer ein Ticket für die Conference hat, dem empfehlen wir aber eindringlich eine ausgiebige Lektüre des Programms!
Dabei bleibt es die größte Herausforderung, sich zwischen Knust und Molotow, zwischen St. Pauli Kirche und dem Michel, zwischen Uebel & Gefährlich und der Großen Freiheit 36 zu entscheiden. Die Wege sind natürlich, und dafür lieben wir Hamburg ja, verhältnismäßig kurz – aber der Zeitplan ist rappelvoll, die Genres zwischen Neoklassik und Indie Rap so vielfältig wie eine gemischte Tüte vom Kiosk an der Ecke. Und sowieso passiert ab ca. 18:30 einfach alles gleichzeitig. Und selbst wenn der persönliche Timetable dann steht, kommt es trotzdem immer noch alles anders als man denkt, wenn man auf der Reeperbahn nämlich alten Freunden in die Arme läuft, oder wenn viele andere Begeisterte die gleiche Idee hatten wie man selbst und man ins Indra oder ins Häkken einfach nicht mehr reinkommt.
Für ein garantiert gutes Gelingen kann natürlich auch unser Vorschlagssammelsurium hier nicht stehen. Es ist einfach ein kleiner zaghafter Versuch, durch persönliche Empfehlungen vorab ein wenig Licht ins Dickicht zu bringen – in der Hoffnung dass alles klappt und wir uns bei einem der nun vorgeschlagenen Konzerte treffen können. Darum hier: Zehn Bands und Künstler*innen, die ihr – unserer Meinung nach – auf gar keinen Fall verpassen solltet!
Mi, 18.9., 19:15, St.Pauli Kirche: ERLAND COOPER
Man sollte, wenn man beim Reeperbahn Festival unterwegs ist, mindestens ein Konzert in einer der beiden Kirchen gesehen haben. Warum nicht am Mittwochabend gleich den Festivalstart gemütlich angehen? Der schottische Multiinstrumentalist Erland Cooper erschafft mit seinen zugleich intimen wie cineastischen Klangcollagen einen inneren Bilderrausch, den man in der heimeligen Atmosphäre der St. Pauli Kirche am besten mit geschlossenen Augen genießt.
Mi, 18.9., 22:40, Molotow (Club): KAPA TULT
Später am Abend sollte man versuchen, seinen Spot im Molotow zu erwischen, was erfahrungsgemäß schwieriger wird je weiter der Abend voranschreitet. Die hochsympathischen Kapa Tult mit ihrem im Punk verwurzelten Indie Rock, der mit on point Sozialkritik kein Blatt vor den Mund nimmt und den die Band selbst als Kaktus-Pop bezeichnet (vermutlich weil er so stachelt) dürften für einen der positiv wildesten Auftritte des Tages sorgen.
Mi, 18.9., 00:15, Molotow (Club): RUM JUNGLE
Rum Jungle lassen es zum Ausklang des Mittwochs an gleicher Stelle etwas entspannter, aber nicht weniger mitreißend angehen. Die Australier packen ihren Koffer und bringen einen Sound zwischen Surfrock und Alternative Pop mit und changieren zwischen faszinierender Introspektive und einehmender Feierlaune mit genau der lässigen Attitude die man von einer Band aus Down Under auch erwarten darf.
Do, 19.9., 23:15, Kaiserkeller: ISAAC ROUX
Wer auf höchst stilvollen, intim arrangierten Songwriter Pop steht, kommt am Donnerstagabend an Isaac Roux nicht vorbei. Wobei man hier nicht nur auf warmherziges, zartfühlendes Balladenwerk trifft, sondern durchaus auf eine stilistisch breit gefächerte Klangpalette. Gelernt hat Isaac Roux übrigens von einem der besten: Nach seinem Studium am Liverpool Institute for Performing Arts konnte er mit niemand geringerem als Paul McCartney an seinen ersten Songs arbeiten. Da darf man gespannt sein.
Fr, 20.9., 20:15, Molotow (Backyard): LEOCARDO DINAPRIO
Die Neue Neue Deutsche Welle, die von einem gewissen Edwin Rosen, der aus dem Festivalsommer hierzulande schon gar nicht mehr wegzudenken ist, zieht weiterhin eine völlig unüberblickbare Zahl an stilistisch hochwertigen Vertretern dieser Zunft nach sich. Mal düsterer und mal poppiger ist es doch erstaunlich, wie lange dieser verhallte, wavvige Indie Sound spannend bleibt. Im Fall von Leocardo DiNaprio beispielsweise sollte man dringend über den Künstlernamen aus der Wortspielhölle hinweg sehen und sich am Freitagabend im Molotow Backyard einfinden. Allein Songs wie „Regen“ sind es mehr als wert diesem Jungen ein Ohr zu schenken.
Fr, 20.9., 21:00, Festival Village: MARLO GROSSHARDT
Zeitlich wird es eng, aber auch Marlo Grosshardt muss man gesehen haben, auch wenn der Weg vom Molotow bis zum Festival Village sicher nicht der kürzeste ist. Der Hamburger verpackt seine Gedanken, nicht selten sind diese höchst sozial- und kulturkritisch, in gestochen scharfe Lyrik, dargeboten in taumelden Indie-Folk-Pop mit Bläsern und überraschend viel Dramatik. Mit „Oma“ hat er jüngst einen sehr intensiven Kommentar zur Wahl in Thüringen und Sachsen veröffentlicht, „Christian Lindner“ ist eine ganz wunderbare Pop-Hymne und zu „Ich tanze Rumba mit deiner Mom“ in bester Faber-Manier lässt sich ganz ausgezeichnet schwelgen.
Fr, 20.9., 21:50, Mojo Club: KING HANNAH
King Hannah sind gar nicht mehr so der ganz große Geheimtipp, aber immer noch kennen dieses Duo einfach viel zu wenige Menschen. Vielleicht ist ihre Show am Freitagabend im Mojo eine der letzten Gelegenheiten, King Hannah zu sehen bevor ihr Name in aller Munde ist. Zwischen Slowcore, Psychedelic- und Alternative Rock, zwischen PJ Harvey und Mazzy Star, findet sich so viel Größe, dass man vor Staunen den Mund nicht mehr zubekommt. Zwingend, intensiv und hoch versiert: Diesem Sound kann man mit Haut und Haaren verfallen.
Fr, 20.9., 22:50, Molotow (Club): LATE NIGHT DRIVE HOME
Late Night Drive Home (allein der Bandname zwingt einen schon sich die anzusehen) beschwören zu einem späteren Zeitpunkt den Geist des Indie Rock der frühen 00er, die Strokes und ihr damals stilbildender Garage Sound haben da definitiv Pate gestanden, auch an die großartigen Car Seat Headrest erinnert dieses Texaner Quartett. Neben der Slacker-Attitüde wohnt in den Songs dieser Band aber auch eine nicht zu leugnende Melancholie. Diese Songs sind wirklich wie gemalt für, na ja, einen Late Night Drive Home eben.
Sa, 21.9., 22:35, Molotow (Club): ENDLESS WELLNESS
Wer sich viel auf Festivals herumtreibt, für den sind Endless Wellness aus Wien natürlich auch kein unbeschriebenes Blatt mehr. Dieses vierblättrige Kleeblatt gehört aber definitiv zu den aufregendsten Exporten unseres Nachbarlandes in der jüngsten Zeit. Man begnügt sich hier nicht mit einer Spielart des Indie Rock sondern wirft mit Elementen aus der NNDW, Lo Fi Rock oder tanzfähigem Pop einfach alles in den Mixer was Spaß macht. Und so machen auch Endless Wellness ungeheuren Spaß – egal wie oft man ihnen schon zugesehen hat.
Sa, 21.9., 23:30, Docks: KIASMOS
Ein würdiger Abschluss für ein so herausforderndes Wochenende? Wie gemalt für Kiasmos. Das Duo, bestehend aus unserem größten Contemporary-Liebling Olafur Arnalds und dem färöischen Elektronik-Artisten Janus Rasmussen ist neun Jahre nach Veröffentlichung seines Debüts wieder am Start und betört durch die unwiderstehliche Mixtur aus Minimal Techno und sanft fließenden, neoklassizistischen Arrangements. Das ist so filigran und wunderschön, dass Tanzen und Schwelgen hier Hand in Hand gehen. Den Füßen also noch einmal alles abverlangen oder sich in purem Wohlklang Richtung Festivalende träumen – bei Kiasmos im Docks wird beides zelebriert werden können.
Text: Kristof Beuthner
Foto: Christian Hedel