Das Reeperbahn Festival bittet ein weiteres Mal zum Tanz. Die Qual der Wahl haben, Freunde wiedersehen, Kaltgetränke trinken, das obligate Pfeffer-Schwein bei Schweinske, ganz legal „Helga!“ rufen dürfen und eine richtig gute Zeit haben: Alles gar nicht so einfach bei so vielen Möglichkeiten. Wir versuchen, ein wenig zu helfen.
Dabei ist es in diesem Jahr schon allein ziemlich schwer, trotz des Überangebots an bands to watch zu all den tollen großen Namen Nein zu sagen, die sich rund um die Reeperbahn bis hinaus ans Planetarium, in der Elbphilharmonie und der wunderschönen St. Michaelis-Kirche versammeln, weil sie eingeladen wurden, uns unvergessliche Konzertmomente zu bescheren. Wenigstens bekommt man jeden Tag die Gelegenheit, sich den isländischen Pianisten Olafur Arnalds anzuschauen. Der beschert uns mit „Ekki Hugsa 360°“ nämlich ein audivisuelles Happening, das er exklusiv in Hamburgs Planetarium gleich an jedem Festivaltag von 18 Uhr bis 19 Uhr aufführt. Allein: Die Anfahrt mit der U-Bahn dauert schon 25 Minuten, das gleiche gilt natürlich für den Rückweg. Was man da alles verpasst! Man muss sich schon wirklich dafür entscheiden. Lohnen wird es sich sicher.
Am Festivalmittwoch spielt die wunderbare Leslie Feist im Stage Operettenhaus, auch eine Location, die neu ist beim Reeperbahn Festival. Davor könnte man die britischen Grantler von den Sleaford Mods und Deutschlands vielleicht beste Liveband, die Leoniden, im Docks erleben, wobei letztere sogar zeitgleich spielen. Und auch die Girlpunk-Combo Gurr zählt inzwischen schon zu den größeren Namen in der hiesigen Indie-Szene. Wer bei dem Konzert im wirklich vergleichsweise kleinen Häkken dabei sein möchte, muss sich vermutlich früh anstellen. Etwas größer wird es einen Tag später im Knust - da könnte man sich aber auch zeitgleich davon überzeugen, dass der australische Surferboy-Songwriter Dean Lewis es tatsächlich vom Aussie BBQ im Molotow-Backyard vor zwei Jahren zum Big Player im Docks samt Radio-Airplay und reichlich guter Reputation gemausert hat.
Freitag spielen die fantastischen We Were Promised Jetpacks im Uebel & Gefährlich; ärgerlich nur, dass zeitgleich tatsächlich die grandiosen Foals im Docks spielen, was ja auch schon wieder eine richtig gute Gelegenheit bietet. Und am Samstag? Die Indie-Referenzband Sebadoh im Uebel & Gefährlich oder die nach wie vor tolle Liveband The Subways in der Großen Freiheit 36? Beides wird nicht möglich sein, es sei denn, man hat die Fähigkeit, sich zu beamen. Selten wünscht man sich das so oft wie an diesem Wochenende.
Dazu kommt, dass einem die zeitgenössische Klassikszene ganz schön viel (positives) Kopfzerbrechen bereiten wird, wenn man es (wie wir) mit ihr hält. Die Neue Meister Labelnacht im Resonanzraum am Freitag (es spielen das Johannes Motschmann Trio, der wirklich hörenswerte Pianist Kai Schumacher und mit Robot Koch und Savannah Jo Lack nebst String Quartet im Grunde ein echtes Must-See) ist ja eh schon Pflicht; dazu gesellen sich noch Carlos Cipa in der St. Pauli-Kirche, der mit „Retronyms“ gerade vielleicht das Contemporary-Album des Jahres veröffentlicht hat, dann Sebastian Plano, ein argentinischer Wahlberliner und Grenzgänger zwischen Cello und Klavier, außerdem der wirklich wundervolle Lubomyr Melnyk. Das Echo Collective performt am Mittwoch mit „12 Conversations With Thilo Heinzmann“ gleich ein ganzes Vollwerk vom verstorbenen und schmerzlich vermissten Johann Johannsson. Vom legendären Penguin Café im Michel ganz zu schweigen. Da muss man sich erstmal zurecht finden.
Die Nachmittage vertreibt man sich am besten bei den vielen Showcases, die in kürzeren Slots ausgewählte Bands und Künstler entweder besonderer Labels oder sich präsentierender Länder vorstellen. Das Dutch Impact am Donnerstagnachmittag im kompletten Molotow ist dabei wie jedes Jahr ein absoluter Pflichttermin (unter anderem spielt dort Jeangu Macrooy unwiderstehlichen Soul, Feng Suave einen sehr entspannten Funk und die fantastischen YIN YIN einen in jeder Hinsicht entdeckenswerten Mix aus Elektronik, Funk, Jazz, Disco und südostasiatischen Soundelementen), genau wie das Aussie BBQ am Freitag (unter anderem mit discofiziertem Indierock von Mid City, fuzzy Dreampop von Planet, mitreißendem Rock von Ali Barter und Punk von Press Club, frisch zur Platte des Monats bei den Kollegen von VISIONS gewählt) und das PIAS BBQ am Samstag (nochmal Ali Barter, Soul von Arlo Parks und solider Indierock von Squid). Austrian Heartbeats, La Festa Italiana oder die Danish Music Night - auch die Auswahl an sehenswerten Showcases ist unermesslich und führt nicht selten zu wunderbaren Neuentdeckungen, wenn man sich entschließt, den Abend an nur einem Ort zu verbringen.
Ja, man sollte sich eigentlich treiben lassen und den Fokus auf Neuentdeckungen richten, und nein, Stress und Hektik gehören eigentlich nicht auf ein Festivalwochenende. Ganz vermeiden lassen wird sich das nicht, aber: Wenn wir helfen können, tun wir das gerne. Mit elf Bands und Künstlern, die man dieses Jahr auf der Rechnung haben sollte und einem Laufplanvorschlag, der uns am vielversprechendsten erscheint. Ob das klappt? Dafür übernehmen wir natürlich keine Haftung!
Blanco Brown (USA) - Hip Hop und Country, geht das zusammen? In diesem Fall schon, und es klingt ziemlich spannend. Hatte mit „Old Town Road“ in Zusammenarbeit mit Lil Nas X schon einen viralen Superhit inklusive Dance-Tutorial, ist wahnsinnig cool und bewahrt eine angenehme Erdung.
(Mittwoch, 23.00, Thomas Read; Donnerstag, 20.00, Moondoo)
Bloxx (GB) - Sehr spannender Mix aus Indiepop, Dreampop und Shoegaze, schon seit einigen Jahren ein Geheimtipp, wahnsinnige Hitdichte, Ohrwürmer en masse, straight to the Indiedisco Dancefloor. Äußerst kreativ, verträumt und verspielt, aber auf den Punkt präzise.
(Mittwoch, 23.40, Nochtspeicher; Donnerstag, 23:35, Molotow/Backyard)
Alex Henry Foster (CND) - Sänger von Your Favorite Enemies auf Solopfaden. Mit 30 Jahren schon eine heftige Vita zwischen Amnesty International, Mitglied in einer Gang und Sozialarbeit, musikalisch zwischen düsterem Songwriter-Folk und Spoken Word-Faszinosum. Aufregend!
(Donnerstag, 11.00, Kukuun und 23.25, Angie’s Nightclub; Samstag, 14.10, Spielbude)
YIN YIN (NL) - Aufregender Mix aus Disco, Funk, Psychedelic und Rock, angereichert mit Elementen der südostasiatischen Musik der 60er und 70er Jahre. Enorm tanzbar und mitreißend, entfaltet einen unwiderstehlichen Sog, unmöglich, dazu still zu stehen. Dringende Empfehlung!
(Donnerstag, 16.30, Molotow/Club; Freitag, 23.40, Molotow/Skybar)
Black Country, New Road (GB) - Absolutes Klangmonster zwischen Postrock, Jazz und Avantgarde, frenetische Vocals und Spoken-Word-Passagen, tiefdüster und hochemotional, filigran und präzise. Irgendwo zwischen Black Midi und Xiu Xiu. Ja, von denen wird man noch hören!
(Donnerstag, 20.00, Molotow/Club)
Carlos Cipa (D) - Hat mit „Retronyms“ das Contemporary-Album des Jahres veröffentlicht. Filigranes Klavierspiel trifft auf sehr durchdachtes Klangspektrum mit Gitarren und Bläsern, schließt Welten und Herzen auf, wahnsinnig suggestiv und hochpoetisch. Muss man gesehen haben!
(Donnerstag, 21.20, St. Pauli Kirche)
Bror Gunnar Jansson (SE) - Was für ein Typ. One Man Band, Sänger, Saxofonist, Drummer, Gitarrist - macht der alles selbst. Wahnsinniger Blues, unfassbar souverän und pointiert, düster und zwingend, ausdrucksstark bis dorthinaus. Muss man sehen um es zu glauben.
(Donnerstag, 21.30, Pooca Bar; Samstag, 15.10, N-Joy Reeperbus)
Junk-E-Cat (D) - Wenn Elektronik, dann bitte so. Spielt normalerweise guerilla-mäßig auf einem umgebauten Feuerwehrauto. Nur echt mit Bauta-Maske und schwarzem Onesie. Live-Electronics treffen Live-Bläser; sehr lässige technoide Vibes mit jazzigem Flair. Schlicht brillant!
(Freitag, 16.15, Häkken)
Rýk (DK) - Aalborgs (noch) bestgehütetes Geheimnis. Wird Appetit auf die bald erscheinende erste EP machen: Indie, Psychedelic, Post Punk und Shoegaze verweben sich bei Rýk zu einem brodelnden, druckvollen, hochspannenden Ganzen. Das wird riesengroß in der kleinen Pooca Bar!
(Freitag, 23.20, Pooca Bar)
Rebecca Lou (DK) - Auch die geschätzten VISIONS-Kollegen finden, dass man diese Band auf dem Zettel haben muss. Kompromissloser Punk’n’Roll, massiv und fordernd, kraftvoll und energetisch. Das Debüt „Bleed“ könnte eine der Platten des Jahres sein. Sollte man auf dem Plan haben!
(Samstag, 21.15, Indra)
Sebastian Plano (ARG) - Wahnsinniger Typ. Spielt Cello und Klavier quasi gleichzeitig mithilfe einer Loop Station. Glaubt man erst, wenn man es sieht. Cineastisch, suggestiv, seit neuestem mit elektronischen Verzierungen geschmückt. Faszinierend und wunderschön.
(Samstag, 19.40, St. Pauli-Kirche)
Als Laufplan-Empfehlung schaut das Ganze so aus:
Mittwoch, 18.9.2019
18.00 - 19.00, Planetarium: Olafur Arnalds - Ekki Hugsa 360° (Neoklassik, Ambient, Happening)
20.00 - 20.40, St. Pauli Museum: The Bland (Country, Pop)
21.10 - 21.50, St. Pauli Museum: BRTHR (Indie, Folk, Americana)
21.45 - 22.10, Bahnhof Pauli: Echo Collective (Neoklassik, Ambient)
23.00 - 23.30, Thomas Read: Blanco Brown (HipHop, Country, sehr cool)
23.40 - 00.20, Nochtspeicher: Bloxx (Indiepop, Dreampop, Shoegaze, Hitmaschine!)
oder
00.00 - 00.40, Sommersalon: Roast Apple (Indiepop, sommerlich und sehr lässig)
Donnerstag, 19.9.2019
11.00 - 11.30, Kukuun: Alex Henry Foster (Singer/Songwriter, düster und grandios)
14.30 - 15.00, Molotow/Club: Jeangu Macrooy (Soul, sehr cool)
15.30 - 16.00, Molotow/Club: Feng Suave (Soul, sehr lässig und entspannt)
16.30 - 17.00, Molotow/Club: YIN YIN (Disco, Funk, Psychedelic meets Südostasien)
18.00 - 18.35, Thomas Read: Platon Karataev (Folk, Indiepop, sehr schön - aus Ungarn!)
19.40 - 20.40, Uebel & Gefährlich: Say Yes Dog (Elektropop, sehr klasse)
oder
20.00 - 20.40, Molotow/Club: Black Country, New Road (Jazz, Postpunk, wahnsinnig gut)
21.20 - 22.20, St. Pauli Kirche: Carlos Cipa (Neoklassik, Pflichttermin!)
oder
21.30 - 22.00, Pooca Bar: Bror Gunnar Jansson (Blues, Rock, One-Man-Show, Alleskönner)
23.00 - 00.00, Häkken: Press Club (Punk, Indierock, zwingend!)
00.20 - 01.00, Nochtspeicher: Von Spar (Legenden: Kraut, Elektronik, Indie, Avantgarde)
Freitag, 20.9.2019
11.00 - 11.30, Kukuun: Devarrow (Folk, Singer/Songwriter)
12.30 - 13.00, Molotow/Backyard: Mid City (Indierock, discofiziert)
13.00 - 13.30, Molotow/Club: Press Club (nochmal in kleinem Rahmen, s.o.!)
14.00 - 14.30, Molotow/Club: The Stroppies (Indie, Folk, 60s)
15.00 - 15.30, Molotow/Club: Ali Barter (Pop, Indierock, stark!)
16.15 - 17.00, Häkken: Junk-E-Cat (Elektronik meets Jazz und Bläser, super!)
20.00 - 20.40, St. Pauli Museum: Blaue Blume (Indie, Postrock, Shoegaze)
21.40 - 22.20, Resonanzraum: Kai Schumacher (Neoklassik, Pianist, großartig!)
22.50 - 00.00, Uebel & Gefährlich: We Were Promised Jetpacks (Indierock, Postpunk)
oder
23.20 - 00.00, Pooca Bar: Rýk (Indie, Shoegaze, Entdeckung!)
Samstag, 21.9.2019
14.10 - 14.30, Spielbude: Alex Henry Foster (Singer/Songwriter, gerne nochmal!)
15.00 - 15.30, Molotow/Backyard: Ali Barter (doppelt hält besser!)
16.00 - 16.30, Molotow/Backyard: Arlo Parks (Soul, super!)
19.00 - 19.30, Resonanzraum: Ensemble Resonanz (Neoklassik, Ambient)
19.40 - 20.40, St. Pauli Kirche: Sebastian Plano (Contemporary, grandios!)
21.15 - 22.00, Indra: Rebecca Lou (Indierock, sehr stark)
23.30 - 00.15, Resonanzraum: Kaiser Quartet (Neoklassik, perfekter Ausklang)
Text: Kristof Beuthner