Nillson.de http://www.nillson.de/ Nillson.de RSS Feed de Nillson.de http://www.nillson.de/fileadmin/templates/website/assets/images/touch-icon.png http://www.nillson.de/ 158 158 Nillson.de RSS Feed TYPO3 - get.content.right http://blogs.law.harvard.edu/tech/rss Sat, 30 Sep 2023 13:54:41 +0200 Beautiful, Beautiful Overkill: Nillson beim Reeperbahn Festival 2023 http://www.nillson.de/artikel/lesen/beautiful-beautiful-overkill-nillson-beim-reeperbahn-festival-2023.html Das schönste Septemberwochenende des Jahres ist immer zugleich auch das herausforderndste. Zwischen Knust und St. Pauli-Kirche läuft man sich wunde Füße, aber weite Herzen. Das Reeperbahn Festival 2023, das nun endlich wieder ganz und gar beschränkungsfrei stattfinden konnte, ließ mal wieder keinerlei Wünsche offen - außer vielleicht den nach einem Teleporter, verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen und noch mehr eigener Energie. Helga!-Festivalpreis, der im letzten Jahr vom kuscheligen Imperial-Theater in ein recht steriles Stangenware-Messezelt umgezogen war, was die Stimmung unter den Zuschauenden doch etwas trübte. 2023 nun steht im Festival Village ein Spiegelzelt, wie wir es etwa aus Haldern oder vom Appletree Garden kennen, und bietet den Festivalschaffenden und Laudator*innen ein endlich wieder angemessenes Ambiente. Veranstaltet vom wunderbaren Höme- bzw. Infield-Magazin gibt es wieder fünf Kategorien: „Grünste Wiese“, den Preis für das nachhaltigste Festival, den das wunderbare Norden Festival bekommt; „Höchster Hürdensprung“, den Die andere Seite der Welt (leider nie davon gehört) gewinnt; die „Reichhaltigste Reichweite“ (for whatever that means), die das kleine Pferdefestival für sich beanspruchen kann; dann noch die „Gemischteste Tüte“, die nach Beratung der Jury das Umsonst & Draußen Festival Würzburg bietet, und schließlich das „Feinste Booking“, das man 2023 beim Nürnberg Pop serviert bekommt. In der Königskategorie „Bestes Festival“ setzt sich einmal mehr das Open Flair gegen eine starke Konkurrenz (Watt en Schlick, Orange Blossom Special oder Ab geht die Lutzi!) durch, und ich glaube wirklich, dass ich mir das endlich mal live und in Farbe anschauen muss. Traditionell viel musikalisches zu entdecken gibt es beim ANCHOR-Award, der den bzw. die beste Newcomer*in auszeichnet. Dabei gab es durchaus eine überraschende Gewinnerin: Gegen u.a. Berq, Daisy the Great oder Paris Paloma setzte sich nämlich die Japanerin Ichiko Aoba durch, und das ist schon klanglich ein besonderer Griff in die Schatzkiste. Fernab von allen derzeit gängigen Pop-Konventionen präsentiert sich hier nämlich eine Reise in bildreiche, cineastische und versponnene Soundgefilde aus Gitarre, Klavier, Blockflöte und Akkordeon, meisterhaft und wunderschön, aber eben auch sehr besonders. „Unsere Gewinnerin transportiert uns in ein zeitloses Japan und kreiert ihr eigenes Universum mit ihrem Talent und ihrer Kunst“, sagt Jurypräsident Tony Visconti, und da kann man nicht widersprechen. Der Keychange Inspiration Award geht in diesem Jahr an die Rapperin Ebow, die mit mächtig viel Haltung in ihren Texten gegen Sexismus, Rassismus und Homophobie aufsteht. Damit ist sie eine äußerst wichtige Repräsentantin der PoC- und Queer-Community innerhalb der HipHop-Szene und darf sich selbst als großes Vorbild verstehen. Dass ich am Ende keine der ausgezeichneten bzw. nominierten Bands und Künstler*innen zu sehen bekommen habe, spricht eigentlich nur mal wieder dafür, wie wahnsinnig viel Qualität und Entdeckenswertes es in den vielen Spielstätten des Reeperbahn Festivals zu bestaunen gibt. Und dabei gilt wie in jedem Jahr, dass Pläne machen zwar schön ist, aber doch nur eine grobe Orientierung bieten kann. Tagesform, Zeitmanagement, Spontaneität und erzwungene Flexibilität wegen plötzlichen roten Ampeln in der Festival-App, die dir zeigen, dass der Club deiner Wahl dich leider nicht mehr reinlassen wird (da hilft dann auch der respektvollerweise nur in den allerhöchsten Notfällen genutzte Delegates-Bonus nichts mehr). Und so beginnt der Mittwoch für mich nach einem anstrengenden Arbeitstag mit etwas ruhigem. Namentlich mit der Schottin Katie Gregson-Macleod im Moondoo, die zwischen Klavier und Gitarre wechselnd wunderbare Lieder über die Liebe, das Leben und verpasste Chancen singt, die gleichzeitig einfühlsam und kraftvoll klingen und von höchst sympathisch-unterhaltsamen Ansagen eingeleitet werden. Von dieser Frau möchte ich gerne mehr hören. Die Irish Folk-Punk-Ekstase von The Mary Wallopers im Molotow klang beim Reinhören (trotz hohem das-hab-ich-doch-schon-mal-gehört-Faktor) sehr nett, ein kurzer Blick in den wie immer rappelvollen Club genügt aber. Das haut mich nicht vom Hocker. Klar bieten auch die Cucamaras im Backyard nichts neues; das ist wütend gebellter, sehr britischer Postpunk mit reichlich Attitude – diese Quelle scheint einfach nicht zu versiegen. Das ist gut, aber nichts, was sich mir ins Gedächtnis brennt. Ich bleibe für vier Songs und mache mich auf den Weg in die St. Pauli-Kirche. Dort warten zwei absolute Lieblinge und inzwischen schon sehr lange Wegbegleiter auf mich, Francesco Wilking und Moritz Krämer nämlich, die mit Artur & Vanessa schon wieder ein neues Projekt am Start haben (die beherrschen das mit den verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen scheinbar deutlich besser als ich). Die dazugehörige neue Platte erzählt die Geschichte eines reichen Jungen, der ausbrechen will, und einem Mädchen, das ihn herausfordert – und wie sie sich finden und wieder verlieren und einen Freizeitpark für alle gründen. Die Kirche ist für den neuen Bandsound zwischen Indie Pop, Jazz und Kammermusik-Elementen natürlich eine Location wie gemalt. Das hat eine unfassbare Leichtigkeit und strahlt vor erhabener Schönheit. Leider kommen die Vocals nur sehr undeutlich durch, und das ist wenn einem eine Geschichte erzählt werden soll doch ganz schön schade. Aber dafür soll man ja auch Platten kaufen und sich zuhause in Musik fallen lassen, und das sei hiermit ganz ausdrücklich empfohlen. Die folgende Wartezeit überbrücke ich mit einem kurzen Snack bei Holy Dogs (der Santamaria mit Beef Roll, Salsa und Guacamole gehört immer noch zu meinen absoluten Festivalfood-Favourites) auf dem Spielbudenplatz und entdecke auf dem Bavaria-Showcase in der (übrigens öffentlich zugänglichen) Spielbude XL wunderbar treibende, sehr versierte und in jeder Hinsicht mitreißende Live Electronics im Bandformat von Aera Tiret, die ich mir sehr gut auf den After-Headliner-Slots meiner liebsten Boutique-Festivals vorstellen kann. Großes faszinierendes Kino ist das. Zum Abschluss des Abends geht’s ins Klubhaus St. Pauli, genauer gesagt ins UWE, denn dort spielt Flawless Issues aus Stuttgart, der es sich vermeintlich leicht macht: Seine Songs klingen beinahe durchweg 1:1 nach Edwin Rosen, sänge der englisch. Nicht umsonst stehen die Indie Kids mit den Rosen-Shirts ganz vorne und tanzen zu dem natürlich qualitativ total hochwertigen New-NDW-Postpunk-Mix, angetrieben von einem Künstler, der ohne Band, sondern mit Musik vom Rechner augenscheinlich sehr viel Spaß hat. Schade, dass er seinen besten Song „Alone Tonight“ (Anspieltipp!) gleich als allererstes spielt. Weil ich erst zu spät wieder auf den Weg nach Hamburg komme, bleiben mir vom hochgeschätzten Dutch Impact-Showcase nur noch zwei Bands übrig. Der sonnendurchflutete Indie Pop von Loupe klingt sehr facettenreich und originell, aber ich muss erst ankommen. Von Tramhaus aus Rotterdam hatte ich ein weiteres Postpunk-Tableau erwartet, doch so einfach ist es nicht. Das Ganze wird nämlich angereichert mit treibendem Indie Rock und Hardcore-Elementen und dargeboten von einem höchst energiegeladenen Frontmann mit Mick Jagger-Gedächtnisfrisur. Das geht sehr gut klar; wenn es gut läuft, sieht man diese Band im nächsten Sommer wieder. Doch nun begebe ich mich erstmal gemütlich ins Festival Village, genieße die Helga!-Verleihung und treffe Freunde und welche, die es werden könnten. Diese Pausetaste gefällt mir. Was dann folgt ist ein absolutes Festival-Highlight: Den wirklich äußerst sympathischen Orbit hatte ich schon länger auf der Rechnung, fand allerdings weder die Zeit mich mit seiner Musik eingehender auseinanderzusetzen noch sie live zu erleben. Das hole ich jetzt in der Batcave, Verzeihung, im Mojo nach – und genieße jede Sekunde. Elektronischer Bedroom-Pop, der trotz seiner Zurückgenommenheit die ganz große Geste kann und dabei auch noch mit wirklich richtig guten Songs aufwartet („Friday Night“ bitte mal anspielen!): Das ist vom ersten bis zum letzten Ton wunderbar. Und die Dankbarkeit von Marcel Heym, Musik – im Staff organisiert von den Freunden, mit denen seine Geschichte begann – zu seinem Lebensinhalt machen zu dürfen, ist absolut authentisch und berührt. Dass Orbit tatsächlich bald eine Europa-Tour spielen darf, ist ihm so umso mehr zu gönnen. Da ist ganz viel Demut und ganz viel Talent, was für ein wichtiger Mix. Platten mitgenommen. Ehrensache. Im Festival Village statte ich dann den Hansemädchen einen kurzen Besuch ab. Die Chorschwestern vom Kiez gehen grade ziemlich steil, seit sie zusammen mit Axel Bosse für „Ein Traum“ beim Hurricane Festival auf der Bühne standen, einen mächtig starken Camping Ground Gig inklusive. Nun müssen sie leider gegen KIZ anspielen, die nebenan als Surprise Act das große Geschütz auffahren, aber die Energie ist groß, der Sympathiefaktor auch, und mir gefällt sehr dass dieser Chor nicht auf akribische Perfektion, sondern auf Unity und Spaß setzt. Das kommt 1:1 an. Ich komme im Anschluss nicht an, also nicht rechtzeitig. Die Ampel fürs Molotow springt auf Rot. Keine Chance, Paerish zu sehen, auf die ich mich heftig gefreut habe. Also trete ich den Heimweg an: Ich habe alles vom Tag gehabt und muss schließlich morgen früh wieder arbeiten. Der Freitag steht ganz im Zeichen des Indie Pop und beginnt im Spiegelzelt mit Neeve aus Stuttgart, die sich ein wenig so anhören wie die Giant Rooks mit lauteren Gitarren. Sommerlicher Feelgood Pop, macht großen Spaß. Genau wie Whammyboy auf der Fritz Kola Bühne, von dem ich der Beschreibung nach mäandernden Psychedelic-Pop à la MGMT oder Empire Of The Sun erwarten sollte, der aber mit treibenden Beats und mitreißenden Songs im Festival Village die Indie Disco eröffnet. Ein kurzer Blick zurück ins Spiegelzelt zu Dekker mit seinem hochsympathischen Folk Pop, ich geh in Gedanken zu den besten Strandmomenten des Sommers zurück, immer wieder ein Genuss. Und dann geht es ins Drafthouse zu den hierzulande noch sträflich unbekannten Briten von Kawala, irgendwo zwischen Folk und Beach Pop, mit zweistimmigem Gesang und unfassbar catchy Songs, überaus harmonisch und treibend, ein wahnsinnig starkes Konzert. Das hatte ich mir auch von den Flyying Colours in der SkyBar erhofft – dass es dazu nicht kommt, liegt an einem der ehernen Reeperbahn Festival-Gesetze, in dem wunderbare Wiedersehensfreude mit guten Freunden gefälligst zu mindestens einem Konzertabend-Abbruch führen muss. Und so ist es auch gut. Nach einem wirklich wichtigen ersten Ausschlafen seit Tagen steckt wie immer am Festivalsamstag die Woche in den Knochen und das Energielevel hat sich irgendwo in der unteren Hälfte eingependelt. Zeit also, sich gemütlich mit einem Kaltgetränk vor den kleinen Open Air Bühnen zu positionieren und noch ein paar Eindrücke mitzunehmen bevor das schönste Septemberwochenende des Jahres endet. Erwartungsgemäß holt mich der Berliner Rapper SQF2000 überhaupt nicht ab. Das heißt: Die Beats schon, die sind grandios, aber die Texte brauch ich nicht. Also auf zum N-Joy-Reeperbus, wo man Bands und Künstler*innen des Tages in appetitlichen 15-Minuten-Häppchen serviert bekommt und zwischen den Acts immer so viel Pause hat um sich ein neues Getränk zu holen. Dort begegne ich dem blutjungen Songwriter TJARK, der zwar irgendwie genau den Indie Pop macht, den in Deutschland gerade alle machen, wenn sie nicht Edwin Rosen nacheifern; selbstreflektierende Texte, ein Trennungs-Lied (insert Mädchenname of choice here, in diesem Fall ist es Isabell) und innere Zerrissenheit, alles da. Was TJARK aber auszeichnet ist, dass er tatsächlich gute Lyrics und wirklich gute Songs hat und auch solo am Klavier ausgezeichnet funktioniert. Von dem wird man noch ganz viel hören und sehen, das ist felsenfest sicher. Es folgen Durry aus Minneapolis, die anscheinend einen durch TikTok befeuerten Hype erleben – hört man diesen sehr klassischen Mix aus College Punk und Emo Pop, hier lediglich mit zwei Gitarren dargeboten, darf man darüber schon überrascht sein, dass so etwas heute noch zieht. Aber die Songs sind super, der Sympathiefaktor hoch. Das geht schon in Ordnung so! Die darauf folgende Pause verbringe ich beim Lieblings-Inder, der aber nur noch Plätze draußen hat – wo ich leider plötzlich im Regenguss sitze. Danach ist alles kalt (mein Essen auch) und die Müdigkeit liegt tonnenschwer auf meinen Schultern. Und ich treffe eine Entscheidung, mit der ich wohl auch nicht alleine bin: Ich lasse die vergangenen Tage und die vielen Konzerte, Begegnungen und Schritte Revue passieren und finde, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, einfach nach Hause zu fahren. Ein letzter kurzer Blick auf die Spielbude XL und die Show von Chinchilla – guter, energiereicher Mix aus Pop, Rap und EDM, unterbrochen von Gesängen der sich auf dem Kiez für den Abend stärkenden Schalker Fans, die am Abend am Millerntor beim FC St. Pauli gastieren – und dann geht’s in die Bahn. Das Reeperbahn Festival hat mal wieder alles gegeben um meine Sinne zu beschäftigen und mich Inspiration tanken zu lassen. Der Ausflug in die unumgängliche Vollüberreizung ist ein weiteres Mal nicht weniger als eines der größten Highlights des Jahres zu bezeichnen – die soziale Batterie kann man überhaupt nicht schöner leer ziehen als an diesem Wochenende in Hamburg. Tolle Konzerte, viele Überraschungen, viel entdeckt, in Gesprächen verloren, wenig geschlafen, alles gehabt: Danke, dass es das gibt! Und ich freu mich jetzt schon unglaublich aufs nächste Jahr. Text: Kristof Beuthner]]> Artikel Sat, 30 Sep 2023 13:54:41 +0200 Kein Wetter der Welt wird diese Liebe zerstören: Nillson beim Appletree Garden 2023 http://www.nillson.de/artikel/lesen/kein-wetter-der-welt-wird-diese-liebe-zerstoeren-nillson-beim-appletree-garden-2023.html Normal ist gar nichts an diesem ersten Augustwochenende in Deutschlands Festivallandschaft. Wochenlanges Herbstwetter mit zum Teil heftigem Regen hat die Wiesen, die im Sommer die Welt bedeuten, in Matschwüsten verwandelt. Das ist an sich nicht neu, das haben wir alle schon erlebt. Gummistiefel gehören zur Kernausrüstung für Festivalisten, genau wie das Regencape, oder man verzichtet zumindest auf letzteres, und wer schon mal während der Lieblingsband von deren Show man sich unmöglich trennen und ins schützende Zelt verziehen kann in einen stabilen Guss geraten ist, kennt das unbeschreibliche Gefühl, bis auf die Socken durchnässt, aber unfassbar glücklich zu sein. Blumengarten kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen (sowieso ist die Kombination Blumengarten-Apfelbaumgarten eigentlich eine Selbstverständlichkeit). Das Duo ist durch wunderbare Songs wie „Paris Syndrom“ und „Wiedersehen“ über die Geheimtipp-Schwelle gegangen und trifft jetzt auf ein euphorisches wie textsicheres Publikum, was die Band ebenfalls sichtlich mit Glückseligkeit erfüllt. Fuffifufzich zählt zu den derzeit spannendsten Künstlerinnen dieses Landes, auch ihr Mix aus Synthiepop und R’n’B trifft hier auf ganz viel Liebe. Die inzwischen zur echten Indie-Pop-Institution angewachsenen Blond bekommen mit einem Warmup der Rave Aerobic-Truppe in der neu geschaffenen Oase, einer kleinen DJ-Stage, die perfekte Steilvorlage für amtlichen Abriss zwischen Feminismus, Dadaismus und messerscharfen Alltagsbeobachtungen im glitzernden Powerpop-Kleid. Über Bilderbuch und das Appletree kann man auch Geschichten erzählen. Denn diese Band und dieses Festival gehören in ihrer schillernden Farbenpracht einfach zusammen. Dass Bilderbuch zuletzt tatsächlich vor sieben Jahren hier waren, damals sogar als Secret Act, wirkt irgendwie unvorstellbar. Die wirken hier einfach allgegenwärtig. Es wäre eigentlich der perfekte Donnerstags-Headliner, aber auch auf dem Co-Posten performen die Jungs mit unfassbarer Liebe zum Detail, kicken überraschend viele Classic Rock-Elemente und haben natürlich einen ganzen Fächer voll Hits am Start, die hier auch jeder kennt. Es ist die vollendete Symbiose. Die Entdeckung des Tages kommt aus Brighton und heißt Porridge Radio. Die Band um Sängerin Dana Margolin spielt im rappelvollen Zelt eine in jeder Hinsicht mitreißende, herzbrechende und hochenergetische Indierock-Postpunk-Show; an keinem anderen Ort auf diesem Festival hätte das so gut funktioniert, denn es muss (mehr oder weniger) dunkel sein, um all diese Emotionalität, die sich dazu auch noch in überaus tanzbaren Hymnen wie „7 Seconds“ oder „The Rip“ manifestiert, auf den Punkt zu bekommen. Ganz großes Kino und definitiv nicht nur ein paar neue Einträge in unsere Lieblings-Playlists wert. Den Abschluss auf der Hauptbühne bestreiten Nu Genea, und das ist eine kleine Überraschung, denn so ein offensichtlicher Headliner wie beispielsweise Bilderbuch ist das Projekt aus Neapel eigentlich nicht. Da fehlen ein bisschen die Hits und der Mitsingfaktor, aber ganz unbestreitbar passt dieser fluoreszierende Mix aus Italo Disco, Funk und Elektropop wie gemalt zwischen die wieder mal in allen Farben leuchtenden Kunstkonstruktionen, die euphorisch in den Himmel gereckt werden, die Lampions und die strahlenden Blüten auf dem Appletree Garden. Das hat einen unwiderstehlichen Groove und zeigt, dass man nicht unbedingt nur exaltiert zu Songs tanzen können muss, die einem schon jahrelang ans Herz gewachsen sind. Der Freitag beginnt auf der am Vortag noch nicht bespielten Waldbühne mit einem äußerst spannenden Hybrid aus sphärischem Indie-Ambient, elegischem Pop und überraschend tanzbarem Indierock von Dolphin Love aus Hannover, der unter anderem à la Sigur Ròs die E-Gitarre mit einem Geigenbogen bearbeitet und sich immer weiter steigert bis auch der letzte weiß: Dieses Projekt muss man sich merken. Bei Steintor Herrenchor auf der Hauptbühne handelt es sich nicht um ein semi-ironisches Chorprojekt aus dem namensgebenden Hannoveraner Szeneviertel, sondern um ein Trio, das die nach wie vor hoch wogende Neue Neue Deutsche Welle bis ins letzte Detail aufs stilvollste zelebriert, ein wenig weht hier der umjubelte Auftritt von Edwin Rosen aus dem letzten Jahr nach. Und es ist sehr schön zu sehen, wie beeindruckt die Band von der Hingabe ihres Publikums ist: „Ihr seid das größte Publikum vor dem wir je gespielt haben, das ist alles Wahnsinn hier!“ In jedem Fall gelingt der Band ein wunderbar mitreißender und umarmender Auftritt, von denen wird man noch mehr hören, so viel steht fest. Für mich gibt es dann nach Jahren als Appletree-Gast tatsächlich eine Premiere: Zum ersten Mal geht es zu einer der alljährlich wiederkehrenden Lesungen vom hochgeschätzten Dirk Gieselmann, Appletree-Gründungsmitglied, Kolumnist und Schriftsteller, der allein in diesem Jahr mit dem Roman „Der Inselmann“ und dem wunderschönen Bilderbuch „Was macht die Nacht“ gleich doppelt lesenswertes veröffentlicht hat, hier aber einen Vorgeschmack auf sein im Herbst erscheinendes Werk „Pearl Jam, oder: Du sollst keine gute Laune haben“ gibt und uns mitnimmt in eine Jugend, in der Musik der Ausweg aus der ländlichen Tristesse und der Kleinbürgerlichkeit war. Da findet man sich wieder. Das möchte man im Regal stehen haben. Der schwelgerische Synthiepop von Zimmer90 bringt die Quintessenz vieler beim Appletree gebuchter Bands auf einen Nenner: Strahlend, schimmernd, tanzbar, bunt. Macht Spaß. Auf strongboi auf der Waldbühne hatte ich mich eigentlich gefreut, zumal es sich dabei um das neue Bandprojekt der sehr geschätzten Alice Phoebe Lou handelt, aber der Genremix aus Jazz, Funk und Ambient fängt mich irgendwie nicht ein. Also wird sich mit einer amtlichen Portion Fish & Chips für den Abend gestärkt, denn der soll es in sich haben. Er beginnt mit Manuel Bittorf und seiner Band alias Betterov, der sich in den letzten Jahren zu einer absolut festen Szenegröße gemausert hat. Das Debütalbum „Olympia“ war eigentlich gar kein „richtiges“ Debüt, weil schon die vorhergehende EP „Viertel vor irgendwas“ und Singles wie „Dussmann“ oder „Platz am Fenster“ längst jeder mitsingen konnte als die Platte im letzten Jahr erschien. Die Premiere bei einem von Deutschlands schönsten Festivals: Überfällig. Entsprechend euphorisch wird Betterovs Set gefeiert und wirklich jeder Song (inklusive der ganz frischen Single „Jil Sander Sun“) Wort für Wort mitgesungen, und für mich bleibt es dabei: Dieser düster-melancholische, aber gleichzeitig unglaublich extrovertierte und sehr tanzbare Post-Punk-Indie-Pop gehört zu dem attraktivsten, was man derzeit aus hiesigen Gefilden zu hören kriegt. Nachdem der Hamburger Kneipenchor am Glitzerstand schon mal einen unverstärkten Vorgeschmack auf das am nächsten Tag folgende Konzert gibt, steht Mine mitsamt zwanzigköpfigem (!) Orchester auf der Bühne – auch ihre Shows sind immer absolute Highlights, eine „Pop-Rap-Revue“ nennt es das Appletree in den Liner Notes und das trifft es auf den Punkt, denn Mine hat inzwischen wirklich ein großes Repertoire an unvergesslichen Hits am Start – und bekommt nochmal extra Ovationen als sie plötzlich auch noch ihren Duettpartner auf Albumlänge, Fatoni, aus dem Hut zaubert. Biig Piig setzt auf der Waldbühne ihrem strangen Projektnamen einen sich stetig steigernden Mix aus Lo-Fi-Pop und Hip Hop entgegen, der zum Schluss restlos begeistert, während Frida Darko im Tiefen Holz mit einem wirklich wunderbaren DJ Set zeigt, warum diese ja auch erst ein Jahr alte Location so ein immenser Gewinn fürs Appletree Garden ist – alles tanzt, alles liebt, alles ist verschmolzen zu einer begeisternden, flowenden Masse und alles ist einfach Gefühl. Dann wird es emotional, denn Bombay Bicycle Club, die bereits 2011 beim Appletree gespielt haben – es ist einfach über eine Dekade her! - sind nach Ewigkeiten wieder in Deutschland zurück, und dann auch noch hier, wo man sie so liebt wie vielleicht an wenigen Orten sonst. Das sind die Indie-Helden des Tages, im Herbst kommt endlich ein neues Album samt Tour, man wird sich wiedersehen und wieder gemeinsam schwelgen, es ist ein wunderbares Konzert, und als die Band „Always Like This“ anstimmt, singt das ganze Festival. Ein wirklich mehr als würdiger Abschluss des Tages. Am Samstag hängt dann doch wieder ein großes Unwetter wie ein Damokles-Schwert über dem Gelände. Irgendwann wird es den Einbruch geben, das ist unbestreitbar. Aber bis dahin verbringt man ja die Zeit am allerbesten mit tanzen. Der Körper ist noch nicht müde, die Euphorie noch zu groß. Wer den gemütlichen Start will, begibt sich zum Gaga-Comedy-Pop-Programm von Luksan Wunder ins Zelt, die man unter anderem von ihren göttlichen „Korrekte Aussprache“-Videos und – ich für meinen Teil – von ihren noch göttlicheren Bad Lip Reading-Videos kennt, in denen Songs von AnnenMayKantereit, Juse Ju oder Bilderbuch plötzlich einen ganz neuen Anstrich bekommen. Und sofort wird auch der Geist wieder aufgeweckt. Genial. Mit einem wunderbar lässigen Auftritt spielen sich am Nachmittag Donkey Kid (Alter, sind die jung!) in den Fokus. Das ist schon wirklich enorm versiert, Lo-Fi-Indiepop mit Slacker-Attitüde und einer Miniprise Wave für die genau richtige Portion 80s-Referenz – fertig ist eine der spannendsten Newcomer-Bands des Jahres. Der Hamburger Kneipenchor erlebt im Tiefen Holz, dass das Appletree Garden Chöre einfach liebt: Es ist kein Rasen mehr zu sehen, die Leute gehen unfassbar mit und plötzlich gibt es sogar einen Circle Pit, aber bei Hits wie „Livin‘ On A Prayer“ oder „As It Was“ kann halt auch jeder mitgehen, das ist ein Stück Ewigkeit, und kaum jemand hat sich als Interpret dieser Hymnen im Chorgewand so verdient gemacht wie diese großartigen Hamburger Jungs und Deerns, die ihr Glück sichtlich kaum fassen können. Große Liebe und Sympathie dann für den wundervollen Lie Ning im Zelt mit einer queeren Soulpop-Revue von berückender Intensität. 2022 hatte der Berliner leider absagen müssen, dass es in diesem Jahr doch geklappt hat, dürfte jedem die Herzen geweitet haben, der dabei war. Zum Glück ist es vom Zelt nicht weit bis zur Hauptbühne, denn dort warten Warhaus, deren Sänger Marten Devoldere durch seine Band Balthazar ja ein gern gesehener Gast im Apfelbaumgarten ist. Seine wunderbar kunstvoll leichten, melancholiegetränkten Indiepop-Songs sind wie immer wundervoll anzuhören. Wiedersehensfreude par excellence. Es folgt das große Donnerwetter und mittendrin das famose Abschiedsdoppel aus der immer wieder sehenswerten Crucchi Gang um Alleskönner Francesco Wilking (Tele, Die höchste Eisenbahn, etliche Beiträge zu den Unter meinem Bett-Kinderlieder-Samplern und ganz frisch mit dem Projekt Artur & Vanessa am Start), die mit einer ganzen Schar illustrer Gäste allseits ans Herz gewachsene Indiepop-Hymnen so hochsympathisch in den Italopop überführt, das man wirklich nicht anders kann als übers ganze Gesicht zu strahlen und sich trotz Regen wie auf einer Sommerwolke zu fühlen, den Aperol Spritz in der Hand, selbstverständlich. Und dann sind da natürlich noch die famosen Von Wegen Lisbeth, genau wie Bilderbuch eine dieser Bands die einfach an diesen Ort passen wie Eis am Stiel zum Hochsommer. Da steht exakt überhaupt gar keiner mehr still, das bedeutet einfach Hits, Hits und nochmal Hits, und live ist diese Band sowieso eine Wucht und eine Wonne. So viel Spielfreude, so viel Energie, es ist ein perfektes Abschlusskonzert (für die, die nicht noch im Tiefen Holz oder an der Oase die Nacht zum Tag machen), das beseelt und glücklich macht. Noch ein, zwei, drei letzte Kaltgetränke zwischen geliebten Menschen, noch ein bisschen treiben lassen durch die kunterbunte Dunkelheit im Apfelbaumgarten, und dann, ja dann ist es wieder vorbei. Unglaublich, wie schnell das immer geht. Nachdem die Trecker der umliegenden Landwirte am Sonntag ihr möglichstes getan haben um die Heimreise nicht zu einer zentnerschweren Hängepartie zu machen (DANKE dass es euch gibt, Leute!!!), man die Gummistiefel gespült hat und die erste Waschmaschine voller Matschklamotten rotiert, ist das Gefühl aber immer noch da. Leuchtet es in allen Farben, sobald man die Augen schließt. Rauscht es noch immer in den Ohren von so viel wunderbarer Musik. Spürt man die Wärme der Umarmungen noch an seinem ganzen Körper. An das Appletree Garden 2023 wird man sich aus mehreren Gründen erinnern. Zum einen, weil man wieder mal gemerkt hat, dass es einer der schönsten Plätze des Sommers ist. Die Lampenschirme, die Lichterketten, die Lampions, die Blumen: Über all das spricht man Jahr für Jahr wieder und jedes Jahr wieder überwältigt es einen. Man wird sich erinnern, wie hingebungsvoll einfach jedes Mitglied dieser Crew alles dafür getan hat, dass dieses Wochenende so reibungslos und unanstrengend wie möglich für jeden einzelnen besuchenden Menschen geschehen kann. Und ich habe niemanden gesehen, wirklich niemanden, den das nicht berührt und beeindruckt hat. Ich habe es eingangs schon erwähnt, aber ich sage es noch hunderte Male: Unsere Dankbarkeit für euren Einsatz ist unermesslich. Ich werde mich auch im nächsten Jahr, wenn mir wieder so vieles aus dem Lineup auf den ersten Blick fremd und unbekannt erscheint, daran erinnern, mit wie viel Liebe zum Detail hier die Künstler*innen und Bands gebucht werden, um ein wunderschönes großes Ganzes zu kreieren und Situationen geschaffen werden, die vielleicht an anderen Plätzen so nicht funktionieren würden. Und ich werde auch im nächsten Jahr wieder früh aufstehen, um zu erleben, welche musikalischen Geschenke mir hier wieder gemacht werden, an die ich noch lange denken werde. Ich werde mich daran erinnern, wie gerade in diesen Festival-Extremsituationen eine Gemeinschaft und ein Zusammenhalt auf diesem Festival entstehen, die ihresgleichen suchen. Und ich habe zum ersten Mal an diesem Ort so richtig wahrgenommen, wie überwältigt auch die Bands und Künstler*innen davon waren. Wenn nichts selbstverständlich ist, hat die Liebe ein umso größeres Gewicht. Und dieses Gefühl hat jeden übermannt, der an diesem ersten Augustwochenende in Diepholz dabei war, als wirklich gar nichts mehr normal war im Festivalsommer. Und es hinterlässt bei mir die tiefste Gewissheit: Wenn Festivals dieser bessere Ort sind, an dem die Schlechtigkeit der wütenden Welt keinen Zutritt hat, an denen die Utopie von Märchenhaftigkeit, Staunen, Feiern und Freiheit Bestand hat, dann bleibt dieses Festival eines, an dem man sich immer und immer wieder, Jahr für Jahr, der Tatsache vergewissern sollte, dass das Leben doch schön ist. Text: Kristof Beuthner]]> Artikel Fri, 11 Aug 2023 15:00:31 +0200 Nur noch finden. Nicht mehr suchen. Nillson beim Orange Blossom Special 2023. http://www.nillson.de/artikel/lesen/nur-noch-finden-nicht-mehr-suchen-nillson-beim-orange-blossom-special-2023.html Die Welt ist schon wieder an und das OBS ist aus. Dass das immer so schnell gehen muss. Und auch dieses Jahr, habe ich das Gefühl, ist es förmlich gerauscht, an mir vorbei und durch mich durch, und hat mich durchgewirbelt, dieses Orange Blossom Special, dieses zuhausigste Festival, diese wundervolle, reparierende, aufbauende, kraftspendende Entität. Die Sonne war mit dabei und hat alles gegeben, was sie konnte. Das kann man ihr nicht hoch genug anrechnen. Sie hat eines der schönsten Wochenenden im Jahr (wenn nicht das schönste) in strahlendes Licht getaucht, als wollte sie sagen: Ich meine es gut mit euch. Es ist schön, dass ihr zusammen seid, ihr alle, da vor und hinter und auf der Bühne. Strahlt so wie ich! Ihr habt es verdient! Get Jealous und Philine Sonny stehen gleich am Freitag zwei Bands bzw. Künstlerinnen auf der Bühne, die man in diesem Festivalsommer noch ganz oft zu sehen bekommen wird; die einen mit mitreißend-ass-kicking Garage-Pop-Punk und einem fulminanten Festivalauftakt, die andere mit introspektivem, aber doch sonnenklar-fließendem Songwriter-Folk. Die ukrainische Indie-Band Love’n’Joy gehört zu den Gewinnern des Eröffnungstages, ihr mit Verve gespielter Mix aus Britpop und Garage- bzw. Psych Rock begeistert, wird zurecht umjubelt und bekommt damit wohltuende Zuwendung in brisanten Zeiten. Odd Couple, aus meiner ostfriesischen Heimat schon seit langem in die Hauptstadt ausgewandert, reißen erwartungsgemäß die Bühne ab. Auf deren kleiner Schwester am anderen Ende des Geländes spielen Tom Allan & The Strangest-Drummer Nico Stallmann mit Julia Zech und Sarah Esser als Lightning Jules elegischen Dreampop. Und einen Gisbert zu Knyphausen als Tagesheadliner zu wissen ist ohnehin immer eine erhabene Angelegenheit; ihn zu sehen ist immer schön, vor allem hier an diesem Ort, wo auch für ihn einst alles einen Anfang nahm, irgendwie. Heute ist er mit seiner Band Husten hier und das funktioniert nachts im Dunkeln ganz ausgezeichnet, wenn es auch die Größe und berührende Tiefe seiner Solo-Songs nie ganz erreicht, aber das eine ist halt das eine und das andere ist das andere, und Husten bringen uns heute mit einem guten Gefühl ins Bett. Der Samstag sollte eigentlich mit fein ziseliertem Kammer-Pop von Malva beginnen, doch die ist leider krank geworden. Dafür springen Loki aus Paderborn ein und sind mit ihrem herrlich hymnischen, breit aufgestellten Folk-Pop für mich direkt eine der Entdeckungen des Wochenendes. Mit acht Leuten auf der Bühne, mit Streichern und Bläsern und auch mit ein wenig Elektronik klingt das wirklich extrem reif und von Weltformat, und ich möchte bitte auf der Nachhausefahrt am Montag die ganze Zeit dieser Band zuhören. Aber dass ich mich förmlich dazu zwingen muss und will, immer wieder ein Auge und ein Ohr zu riskieren, liegt an dem, was gerade nebenbei passiert und warum mich die Tunneligkeit am Anreisetag so fest im Griff hatte. Denn inzwischen ist meine eigene Band gelandet und 44 kleine bis junge Menschen sind aus dem Bus gestiegen, und die sind alle ziemlich excited auf das, was da wohl gleich um sie herum passieren wird. Für mich ist der zweite Auftritt meiner Tiny Wolves auf dem Orange Blossom Special insofern ein ganz besonderer, weil hier 2019 alles für uns begonnen hat und dieses Projekt ohne dieses Festival einfach nie das wäre was es heute ist. Weil Rembert an das Konzept geglaubt hat, dass da eben nicht einfach ein „putziger Kinderchor“ „niedliche Liedchen“ singt, sondern dass möglicherweise eine ungeahnte Tiefe darin steckt, wenn „erwachsene“ Songs aus kindlicher Sicht interpretiert werden, von Freunden für Freunde – und den Menschen das vielleicht sogar gefallen könnte. Und er uns als Walking Act eingeladen hat und wir zwei Songs unterm Kronleuchter spielen durften und das so besonders war und wir das gar nicht alleine so fanden. Und da jetzt ein veritables Chor-Band-Projekt daraus geworden ist, das man in den Festivalsommern dieses Landes seitdem auf so einigen Plakaten findet. Was ja wirklich alles Wahnsinn ist wenn man mal drüber nachdenkt. Vier aus der Band waren schon 2019 dabei und sind den ganzen Weg bis heute mit mir gegangen, sie schauen also nochmal mit einem anderen Strahlen auf diesen Tag als der (nicht weniger glückliche) Rest. Da bist du 12 Jahre alt und trittst heute schon zum zweiten Mal auf dem Orange Blossom Special auf. Es ist doch irgendwie auch verrückt. Heute dürfen wir ganze 40 Minuten spielen und das Set fühlt sich für alle, auch für unseren Cajon-Boy Tammo, trotz bis ganz hinten gefüllten Reihen an wie im Wohnzimmer, organisch und richtig, und die Atmosphäre überträgt sich auf jeden einzelnen, der da steht und „Ich will da sein wenn es passiert“ singt. Und wieder liegt diese andächtige Stille über dem Glitterhouse-Garten und wieder gibt es Tränen vor und auf der Bühne und alles ist einfach nur schön. Ein Tag zum Einrahmen und niemals vergessen. „OBS heißt, keine Unterschiede zu machen […], OBS heißt, du darfst sein wer du bist und wie du bist.“ Und wenn du Kind bist, wird dir hier genauso zugehört wie einer Rockband aus Amerika. Dieses Gefühl von „Das wann ist genau jetzt und das wo ist genau hier“ ist unbeschreiblich für uns alle. Am Nachmittag werden Shirts bemalt und es wird die Fotobox leer fotografiert, es gibt Mitmachzirkus-Spaß und ein Abschlussfoto vorm Wandgemälde, und dann geht es, überwältigt von Sonne und Eindrücken, wieder nach Hause, begleitet von winkenden Händen und in die Luft gehaltenen Herzen. Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich bin. Zwischendurch versuche ich natürlich Musik zu hören. Und freue mich über die Homies von Deniz & Ove, deren Konzept genau in die andere Richtung läuft als unseres („Erwachsenenmusik von Kindern“ vs. „Kindermusik von Erwachsenen“), aber bei niemandem den ich kenne funktioniert das besser, aufrichtiger und authentischer. Zwei Sets auf der Minibühne gibt es, an denen klar spürbar nicht nur Kinder Spaß haben, und ich find’s genial. A propos Minibühne: Auf der spielt einer der Gewinner des heutigen Tages, der kanadische, brasilianischstämmige Wahlberliner AfroDiziac, und das ist der pure Abriss, irgendwo zwischen Psychedelic, Sixties Rock und Grunge, explosiv und in jeder Hinsicht spektakulär, und ein unfassbar guter Typ ist das auch noch. Ich lege mich fest: Den hat man beim Orange Blossom Special nicht zum letzten Mal genießen dürfen. Die Bands auf der Hauptbühne sind auch alle klasse, wenn sie auch im Trubel der eigenen Umtriebigkeit ein wenig in den Hintergrund rücken. Da wären Kratzen mit ihrem hypnotischen Krautrock, die feinen Palila mit ihrem herrlich 90s-referenziellen Indie Rock (für mich irgendwo zwischen frühen Nada Surf und frühen Weezer mit einer Prise Pixies), die absolut grandios groovenden Schweizer von Saitün mit orientalischen Einflüssen auf tanzbarem Indierock, von denen ich gerne viel mehr gesehen hätte (ich hoffe, die Chance kommt!). Und natürlich die wundervollen Wrest aus Schottland, die mit ihrem intensiven Breitwand-Pop irgendwo zwischen frühen Coldplay, We Were Promised Jetpacks und den späten R.E.M. zu verorten sind und die, hätten sie zu einem späteren Zeitpunkt gespielt, für mich fraglos eins der Wochenend-Highlights dargestellt hätten. Deniz Jaspersen von Deniz & Ove gibt sich übrigens heute gleich nochmal die Ehre und zelebriert die (vorläufige?) Reunion seiner 00er-Referenzband Herrenmagazin, die sich mir zu ihrer Blütezeit nie so ganz erschlossen hat, die aber genau das richtige sind für mich, um auch als Zuschauer im Festivaltag anzukommen. Manchmal braucht man eine Band auch einfach erst ein paar Jahre später und hat es vorher einfach nicht besser gewusst. Das Postpunk-Noise-Gewitter von Whispering Sons ist ohne Gleichen großartig, die Intensität ist mit den Händen greifbar; das ist wieder so eine dieser Bands, die man sich im Glitterhouse-Garten erst nicht so vorstellen kann weil sie so anders ist, aber wenn sie da ist, ergibt sie uneingeschränkt Sinn. Einer der besten Auftritte des Wochenendes. Und The Haunted Youth aus Belgien beenden den Tag mit herrlich mäanderndem Shoegaze à la frühe MGMT und Slowdive, stilvoller kann man das kaum machen. Der Surprise Act, dieses Jahr Die Nerven, kriegt mich einfach leider nicht, Renommée und Lorbeerkränze hin oder her, aber dass sie ihr Set mit „What’s Love Got To Do With It“ der jüngst verstorbenen Tina Turner beenden, ist ein ziemlich starker Move. Hotel Rimini und The Deslondes verpasse ich leider, Stefan Honigs neues Projekt Accidental Bird auf der Minibühne spielt sehr sympathischen hymnischen Indiepop und Fire Horse bedienen die Liebe des OBS-Publikums zu lärmendem Seventies-Heavy-Rock, den sie mit einer guten Portion Stoner anreichern. Lera Lynn serviert eine wunderschöne Mischung aus Indie-Folk und Dark Country, da mag man ganz in Ruhe zuschauen und schwelgen. Und dieses Innehalten geht insofern gut klar, da man seine Kraft für die Iren von Thumper braucht, die mit zwei Schlagzeugern und einer Rampensau von Frontmann ungebremst eimervoll schmackhafteste Rockband-Energie im Glittergarten ausschütten. Natürlich ist der längst überfällige OBS-Auftritt von Thees Uhlmann für nicht wenige (inklusive mir) eines der Highlights des Sonntags. Das ist natürlich einer, zu dem man nicht viel sagen muss, weil seine Fußabdrücke schon so lange so tiefe Spuren hinterlassen haben, aber immer wieder muss ich feststellen, wie viel mehr präsent und zufrieden er mit seiner eigenen Band (die übrigens unglaublich tight ist, ich bin immer wieder erstaunt) wirkt, auch wenn ich sehe, dass seine wie gewohnt wortreichen Ansagen inhaltlich nicht immer für alle den richtigen Ton treffen („Kinder gehören nicht auf ein Rockkonzert“, den High Five für die Kleinen vor der Bühne gibt es trotzdem) und man sein exorbitantes Sendungsbewusstsein auch hier und da als Hybris und Selbstverliebtheit interpretiert. Nichtsdestotrotz bleibt seine "Es gibt keine Scham, es gibt keine Schuld"-Ansage für Menschen, die an Depressionen leiden, wichtig und kraftvoll. Weil seine Solo-Songs mich seit jeher nicht so catchen, freue ich mich umso mehr über drei Tomte-Lieder und genieße die Show trotzdem. A.S. Fanning ist der würdige Abschluss, schön angedunkelter, schwelgerischer Folk Noir, düster aber zeitgleich hoffnungsspendend und damit genau richtig in der langsam aufkommenden Stimmung verortet, dass das Wochenende wohl bald zu Ende sein wird, aber das Gefühl bleiben wird und die Vorfreude aufs nächste Jahr sich schon morgen nach dem Aufstehen direkt wieder einstellt. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Mann nicht total abräumen sollte bei eurem OBS-Publikum“ wurde Rembert im Vorfeld gesagt, und da kann nicht eigentlich nur noch sagen: Recht gehabt. „OBS heißt drei Tage lang auf den schlechtesten Witz des Jahres zu warten und dann ‚Gute Nacht, bis nächstes Jahr‘ zu sagen.“ Der Witz ist in diesem Jahr wirklich nicht gut. Die vielen „Gute Nacht, bis nächstes Jahr“ um mich herum sind umso inniger und herzlicher, zumindest habe ich das Gefühl als auch ich noch einmal tief durchatme. Viele sehen sich jetzt ein Jahr lang gar nicht. Das ist irgendwie wieder seltsam, dass man sich so verbunden fühlt und das nur für drei Tage ausleben kann. Aber man weiß ja auch, dass keine dieser besonderen Freundschaften hier an Abstinenz zerbricht. Das wissen ja alle. Absence makes the heart grow fonder. Wenn in einem Jahr zu Pfingsten das Auto beladen wird und allerspätestens dann wenn man durch die Berglandschaft fährt und im Fenster der Raps leuchtet, bis man endlich wieder in den Grünen Weg in Beverungen einbiegen kann, wird alles wieder da sein. Das geht nicht einfach weg, das hört nicht einfach auf, und man wird wiederkommen und wieder finden, nicht mehr suchen. Umarmungen, Gespräche, die Hand auf der Schulter, Kaltgetränke, Verstandenheit, selbstgewählte in den Schoß gefallene Familie. Jedes einzelne Wort aus Sarah Laus Text ist die Wahrheit und jedes einzelne doch nur ein Versuch, zu beschreiben, was man nicht beschreiben kann wenn man es nicht selbst erlebt. Also noch ein letztes Mal, heben wir das Glas, stoßen wir an auf 25 Jahre (bzw. Ausgaben) Orange Blossom Special – und freuen uns mit vorfreudig klopfendem Herzen auf die nächsten 25! Text: Kristof Beuthner ]]> Artikel Thu, 01 Jun 2023 23:02:28 +0200 Zurück zum normalen Wahnsinn! Nillson beim Reeperbahn Festival 2022 http://www.nillson.de/artikel/lesen/zurueck-zum-normalen-wahnsinn-nillson-beim-reeperbahn-festival-2022.html Zwei Jahre lang hat sich das Reeperbahn Festival pandemiegerecht aufgestellt, in diesem Jahr ist endlich alles wieder so, wie wir es kennen. Das muss (noch) nicht jedem (wieder) gefallen, Fakt ist: Sich auf Hamburgs Meile wunde Füße zu holen hat so viel Spaß gemacht wie zuletzt 2019. Das ist mein Bericht. HELGA!-Award vom Höme-Magazin in diesem Jahr, trotz des Location-Wechsels vom kuscheligen Imperial Theater in ein recht anonymes Großraumzelt im Festival Village, dieses Mal auch geprägt von großer Dankbarkeit, wenngleich es auch der Festival-Szene immer noch nicht wieder gut geht und sich angesichts der Klima-, Energie- und Besucher-Krisen im kommenden Jahr einige neue Fragen stellen werden. Aber den Festivalsommer 2022 hat es gegeben, und seine offiziellen Gewinner heißen Orange Blossom Special (Kategorie „Wohligstes Gewerkel“), Lunatic Festival („Feinstes Booking“), SNNTG Festival („Gemischteste Tüte“), Skandaløs Festival („Schönstes Miteinander“) und Futur 2 Festival („Grünste Wiese); als Bestes Festival wurde am Ende das Open Flair prämiert. Doch gewonnen hat eigentlich jeder, der es durch einen immensen Kraftakt, viel Support und ein tolles Team im Hintergrund irgendwie durch die Krise geschafft hat und den Menschen das Gefühl wiedergegeben hat, barfuß im Gras zu seinen/ihren Lieblingsbands zu tanzen. An Awards ist das Reeperbahn Festival ja ohnehin nicht arm, so freut sich die Rapperin Nashi44 mit Sicherheit sehr über den VIA (VUT Indie Award) als beste Newcomerin, genau wie Perera Elsewhere über die Auszeichnung als bester Act. Sophia Kennedys „Monsters“ holt den Preis für das beste Album und der Verein „Musiker ohne Grenzen e.V.“ nimmt den VIA Sonderpreis mit nach Hause. Die Jury für den Anchor Award ist wie in jedem Jahr ziemlich bunt zusammengemischt. Wann sitzt schon mal Hives-Frontmann Pelle Almqvist mit Joy Denalane und Bill Kaulitz (der sich übrigens auch nicht nehmen lässt, als Gast beim Kraftklub-Surprise-Gig auf der Reeperbahn auf der Bühne zu stehen) am Tisch? Die Briten von Cassia setzen sich mit ihrem treibend-tanzbaren Indiepop letztlich unter anderem gegen The Haunted Youth (Postpunk/Shoegaze aus Belgien) und Philine Sonny (Songwriter-Folk aus Deutschland) durch – konsequente Wahl, die das Trio bei seinen Shows im Grünspan und im Nochtspeicher auch eindrucksvoll bestätigt. Was gibt’s sonst neues? Bei den Locations ist die Reeperbahn wieder etwas mehr zusammen gerückt, was vor allem dem Wegfall der Planten & Blomen-Bühne „Draußen im Grünen“ zuzurechnen ist. Man braucht einfach weniger Platz an der frischen Luft, wenn drinnen alles wieder geht. Darum ist auch die große Außenbühne auf dem Festival Village gewichen; hier steht jetzt ein schickes Spiegelzelt (kennen wir aus Haldern!). Dadurch ist auch das Village auf dem Heiligengeistfeld selbst jetzt etwas mehr ins Geschehen eingebunden – insgesamt geht hier aber neben Zelt und Fritz Kola-Bühne aber sicherlich auch noch mehr für kürzere Wege und einen beliebteren Treffpunkt. Oft war es gerade im Vergleich zum Spielbudenplatz doch recht leer, und die wie immer grandiose Poster-Ausstellung bekommt dadurch auch nicht die Bühne, die sie eigentlich verdient hat. Dafür bleibt der Platz vor der Spielbude XL so groß wie im Vorjahr, und weil er keine Zäune mehr drumherum hat, dürfen sich hier jetzt auch Besucher ohne Ticket, genau wie beim N-Joy Reeperbus, Konzerte anschauen. Ja und a propos Konzerte, denn darum geht es ja eigentlich. Einen vollumfänglichen Bericht abzugeben, ist da wohl wie immer ein Ding der Unmöglichkeit. Zumal es kommt, wie es nun mal immer kommt: Du willst von Punkt A nach Punkt B und von Band X zu Band Y und hast dafür geschätzte zehn Minuten Zeit, triffst aber zwischendurch mindestens drei Personen, die es schaffen, dass du ohne es eigentlich geplant zu haben mit zu Punkt C oder Punkt D kommst und dir Band Z anschaust, die irgendwie auch ziemlich lohnt. Darum, ganz ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: Wenigstens ein kurzer Überblick darüber, was für mich sehenswert war und was nicht. Als allererste Show gibt es für mich am Mittwoch BDRMM im Village. Shoegaze-Dreampop aus Großbritannien. Der live bei weitem gar nicht so verträumt daherkommt, sondern eher wirkt wie eine ausgedehnte Jam Session mit großen Walls of Sound, durchaus druckvoll, sehr mächtig. Die landen definitiv auf der Merkliste. Bilbao im Spiegelzelt liefern straighten Indie Pop ohne Überraschungen, den gewohnt guten Sommer-Soundtrack, kann man immer wieder gut machen. Mitmach-Action für die große Festivalbühne können die Jungs inzwischen auch – die wird man sicherlich im nächsten Sommer irgendwo wiedersehen. Hinsichtlich neuer Deutschpunk-Bands hat das Reeperbahn Festival 2022 eine ganze Palette vielversprechender Kandidaten aufgefahren. Die nahbarsten sind sicherlich Maffai, die auf der Spielbude XL gar nicht ganz so catchy daherkommen wie von Platte, sondern auf sympathische Weise wirken wie die JUZ-Band aus deiner Kleinstadt. Anschließend mache ich mich auf den Weg ins Molotow, wo ich überraschenderweise tatsächlich ganz entspannt rein komme (das kenn ich selbst aus Vor-Pandemie-Zeiten noch anderes). The Goa Express spielen britischen Indie Rock, wie er eigentlich gar nicht mehr gemacht wird; die Class of 2005 winkt aus der Ferne, aber das funktioniert natürlich immer noch zeitlos und mitreißend. Und mit Honeyglaze im Backyard gibt es dann sogar noch ein echtes Folk- und Dreampop-Highlight zwischen Mazzy Star und hymnischem Pop, auch hier gilt wieder: Live ist das deutlich druckvoller als von Platte, gefällt wirklich extrem gut. Der Donnerstag beginnt für mich mit den Dänen von Blaue Blume auf der Fritz Kola-Bühne, die eigentlich im Dunklen spielen müssten, weil ihr sphärischer Mix aus Ambient, Pop und Postrock dort wohl nochmal deutlich besser funktioniert als bei strahlendem Sonnenschein. Immer wieder beeindruckend ist die stimmliche Range von Sänger Jonas Smith, von Postpunk-Tiefe bis in Sigur Rós-Höhen, und das Songwriting wirkt inzwischen noch tighter und präsenter – es wird endlich Zeit, dass diese Band den Durchbruch bekommt, den sie verdient. Nach dem Helga! mache ich mich auf den Weg in die St. Pauli-Kirche, zum ersten Mal heute, denn dort wartet das erste Highlight: Die belgisch-äthiopische Songwriterin Meskerem Mees bringt in kleiner Besetzung (Gitarre / Cello) mit ihren wirklich wundervollen Folksongs zwischen Tracy Chapman und Eva Cassidy den gesamten Raum zum Schweigen in Andacht. Das sind Momente, in denen die Musik über allem steht. Das ist schlichtweg grandios. Im vergangenen Jahr hatte ich sie noch verpasst, nun stand sie dick markiert auf meiner Watchlist, und das bereue ich keine Sekunde lang. Das oben beschriebene Szenario (mit einer Person dann doch zu Punkt C um Band Z zu schauen) greift kurze Zeit später und führt mich direkt wieder in die Kirche zurück. Dort spielt M. Byrd, der mit seinem entspannten Indie Pop in diesem Jahr zu den „Wunderkindern“ des Exportprogramms des Reeperbahn Festivals, „German Music Talent“, gehört. Allein, er hinterlässt keinen bleibenden Eindruck. Das war im letzten Jahr in der Sonne irgendwie passender in seiner Lockerheit, hier in der Kirche, wo man so richtig zuhört, wirkt es schon nach fünf Songs etwas beliebig. Danach halten wir noch mal hier und mal da an, aber weder Roller Derby, noch Yatwa halten mich länger fest. Der Donnerstag geht ohne krönenden Abschluss zu Ende. Die kurzen Shows beim Reeperbus auf dem Spielbudenplatz eignen sich gut, sich im Schnelldurchlauf mit festem Platz einen Überblick zu verschaffen, wen man vielleicht noch nicht auf dem Laufplan hatte und auf wen sich am Abend noch ein zweiter Blick lohnt. Mit Sicherheit gilt das für The Haunted Youth aus Belgien, die in kleiner Besetzung zeigen, dass ihr atmosphärischer Postpunk auf glasklaren Indie Pop-Füßen steht. Und mit ganz großer Sicherheit gilt das für den Kanadier Billy Raffoul, inzwischen gar kein so gut gehütetes Geheimnis mehr. Der wird am Samstag (allerdings ohne mich) im Michel auftreten und zeigt hier zunächst alleine, dann mit immer mehr Band-Verstärkung, warum die Pop-Welt mit diesem langhaarigen Typ in den nächsten Jahren rechnen muss. Und im Michel wartet dann mein ganz großes Highlight. Denn als ich vor zwei Jahren vom Sofa aus Betterov entdeckte, hat sich wohl keiner ausgemalt, dass ihm einer der exponiertesten Slots des Jahres 2022 mit einer der ausgefallensten Shows gehören würde. Denn Betterov spielt hier, kurz vor Release seines Debütalbums „Olympia“ (endlich!) im Oktober, nicht etwa alleine bzw. mit Band, sondern es ist ein „Betterov & Friends“-Konzert, mit kleinem Orchester und illustren Gästen von Novaa und Paula Hartmann über Fil Bo Riva bis Olli Schulz (!). Das Konzept, die angedunkelten, Postpunk-nahen Indie-Popsongs von Manuel Bittorf in ein reduziertes, orchestriertes, andramatisiertes Set zu übertragen, funktioniert mal besser („Das Tor geht auf“, „Nacht“) und mal tatsächlich auch nicht so gut („Platz am Fenster“ und leider auch „Dussmann“). Die Gastauftritte sehen so aus, dass zunächst ein Betterov-Song und dann einer der Friends gemeinsam intoniert wird, wobei Fil Bo Riva auf die Darbietung eines Gastgeber-Tunes verzichtet und Olli Schulz durch seine enorme Bühnenpräsenz das Konzert ziemlich schnell an sich reißt – Bittorf ist selbst einfach zu überwältigt von dem beeindruckenden Ambiente und wie gut sein Plan einfach heute funktioniert, dass er sich gar nicht dagegen wehren kann. Nach anderthalb Stunden ist Schluss, und es war sehr schön, aber nicht der erwartete Superflash. Den gibt es dafür bei den Whispering Sons im Indra mit höchst intensivem Postpunk und einer Frontfrau, die genau weiß, dass sie wohl von jedem, der mit dieser Band nicht vertraut ist, unterschätzt wird. Aus diesem zierlichen Persönchen kommt nämlich eine Stimme, die so gar nicht zu ihrer äußeren Erscheinung passen will. Aber Fenne Kuppens gibt mit Freude den Derwisch und hinterlässt eine Menge Staunen und tiefe Versunkenheit in ihre düsteren Soundkonstrukte. Ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Auftritt. Den die Kanadier von Kiwi Jr. im Backyard natürlich nicht toppen können, obwohl ihr zwischen Indierock und Collegepop schwankender Sound viel Spaß macht, doch die Synapsen schlagen nicht mehr in Richtung Aufnahmefähigkeit aus und das ist nach diesem Tag auch vollkommen okay so. Das Reeperbahn Festival 2022 endet für mich aus privaten Gründen schon einen Tag früher und der Samstag fällt aus. Da Hamburgs Wetter sich aber auch ab jetzt äußerst klischeehaft präsentiert und das Flanieren zwischen Sünde und Sound im Regen gar nicht ganz so viel Spaß macht, bin ich damit ausnahmsweise okay. Alles, was ich mir von einem Wochenende wie diesem erwartet habe – Freunde treffen, Musik hören, Bands entdecken, gute Gespräche und Essen im Maharaja – habe ich bekommen. Ein paar Tage später feiert meine Corona Warn-App natürlich Karneval. Ohne Kollateralschäden kann ein solches Event natürlich nicht funktionieren, aber das wusste man vorher und ich komme ungeschoren davon. Realität ist, dass das Realität ist und es wohl in Zukunft immer ein paar Unglückliche geben wird, die die schönen Tage mit einer Woche in Isolation bezahlen müssen. Nichtsdestoweniger gilt: Das Reeperbahn Festival hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Alles hat gut ineinander gegriffen, fühlte sich gut organisiert und unfrustig an (letzteres gilt auch ausnahmslos für alle Besucher*innen, die mir über den Weg gelaufen sind). Ich bin gespannt, welche Neuentdeckungen oder verpasste Highlights ich im kommenden Festivalsommer wiedersehen werde. Und ich freue mich jetzt schon wieder auf das Planen, Laufen und Scheitern im nächsten September. Text: Kristof Beuthner]]> Artikel Mon, 03 Oct 2022 16:12:48 +0200 Vom Geburtstag im Märchenwald und unbändiger Freude: Nillson beim Appletree Garden 2022 http://www.nillson.de/artikel/lesen/vom-geburtstag-im-maerchenwald-und-unbaendiger-freude-nillson-beim-appletree-garden-2022.html Ist das wirklich auch schon wieder drei Jahre her, dass wir uns zuletzt an den Lichtern, den Bäumen und den wundervollen, bunten Menschen auf dem Appletree Garden nicht satt sehen konnten? Dann muss die Geschichte dieses besonderen Wochenendes ja erst recht erzählt werden. Von einer verspäteten Geburtstagsparty, großer Wiedersehensfreude und Momenten für die Ewigkeit. Los geht’s! Dirk Gieselmann verfasste Vorwort im Programmheftchen. Ihm kommt als Präsentator der erzählenswertesten Geschichten aus nunmehr 20 Ausgaben Appletree Garden, die er auf der neuen Bühne „Tiefes Holz“ vor den Augen seiner Zuhörer zum Leben erwachen lässt, eine besondere Rolle zu, denn wer könnte besser davon berichten als einer, der von Anfang an dabei war? Er spricht von einem Stein, der vor einundzwanzig Jahren ins Wasser geworden wurde und dessen Wellen sich wie konzentrische Kreise ausbreiten. In den äußersten wohnen die, die einst aus einer verrückten Idee einen wundervollen Plan werden ließen. Dahinter die, die das Festival weitergeführt, es dann groß gemacht haben. Und dann die, die nicht müde werden, dafür zu sorgen, dass das Appletree Garden schöner und schöner wird, Jahr für Jahr. An diesem Wochenende sind alle da. „Wir sind alle unsterblich, zumindest für die nächsten drei Tage“, schreibt er. Ja: Das sieht man. Das spürt man. Manche an diesem Wochenende zum zwanzigsten Mal, andere feiern ein kleineres Jubiläum und machen die Zehn voll, andere erleben ihre Premiere und fragen sich, was sie eigentlich bisher davon abgehalten hat, am ersten August-Wochenende des Jahres nach Diepholz zu fahren. Oder sie sind während der letzten zwei Pandemie-Jahre in das Alter hineingerutscht, in dem Festivals eine ernsthafte Option für die Gestaltung von Sommerwochenenden geworden sind. Erstaunlich viele sehr kleine Kinder werden im Arm getragen oder stolpern glücklich über den Rindenmulch auf der Bürgerpark-Wiese. Es ist eine Menge passiert und ganz offensichtlich hat das Rad der Zeit sich fleißig weiter gedreht, aber ja: Heute sind wir alle unsterblich. Zumindest für diese drei Tage. Und es ist sofort wieder da, dieses Empfinden. In der Campingplatz-Schlange, beim Bändchen-Checkin, beim Wiedersehen zuerst mit den Freund*innen, dann beim Durchschreiten des von Regenbogenfarben umrahmten Appletree-Haupttores, dass das Zeltdorf mit dem Märchenwald verbindet. Romantisch ist es immer dann, wenn einen die Romantik übermannt. Das schwankt immer hin und her, zwischen der gedachten Faust in der Luft mit dem Jubelschrei: „Ja!!! Hier, genau hier gehör ich hin!“ und dem kurz innehaltenden, mit geschlossenen Augen vergegenwärtigten Glückseligkeitsgedanken: „Es ist so gut, dass ich wieder hier sein darf“. Du kannst die Zeit nicht mehr zurückdrehen, aber das Jetzt kannst du genießen, und bei aller Tragik und all den Brandherden, deren Bilder sich tief in unser Innerstes eingebrannt haben und denen wir uns nicht verschließen können und dürfen: Du musst genau solche Augenblicke haben, die Blicke schweifen lassen auf die Farben und die bunten Menschen, um zu erkennen, dass es schier unmöglich ist, in einer gänzlich verkehrten Welt zu leben. Thema Märchenwald. Das Appletree Garden hat sich zum Geburtstag eine neue Bühne geschenkt, das „Tiefe Holz“, für das man ein ganzes Stückchen weiter ins Wäldchen hinein laufen muss, der Weg beschienen von Sternenprojektionen und bunten Lichtern. Ein tolles Geschenk. Ist das hier phänomenal schön. Auf einer verwunschenen Lichtung ragt die kleine Bühne, die aussieht wie ein verhextes Zelt, empor und bietet Platz für Lesungen (Dirk Gieselmann), die wunderbare Rave Aerobic, exzentrischen Drehorgel-Abriss (Mambo Schinki, wieder mal absolut legendär) und ganz besondere Konzerte wie von der ukrainischen Rapperin alyona alyona, dem Disco-Pop-Duo Juno Francis oder den brillanten Shkoon, bei denen sich Slow House mit beinahe sphärischen, flächigen arabischen Vocals zu einem faszinierenden Sound vereinen – für mich eins der Highlights im Tiefen Holz. Und natürlich für die Aftershow-Elektro-Sause an jedem Tag. Riesengewinn. Ebenfalls neu und kurz erwähnenswert ist das Cashless-System, bei dem jede*r Besucher*in einen Chip am Bändchen trägt, auf den bereits vorab oder alternativ an drei Stationen Geld geladen werden kann und der einzig mögliches Zahlungsmittel auf dem Food Court, am Getränkestopp oder am Merch darstellt (hier Ausnahme: Auch EC war machbar). Eine gute und weitgehend unkomplizierte Neuerung, die gerne bleiben darf. Die Gäste, die sich das Appletree Garden auf die Bühnen geladen hat, lassen keine Wünsche offen. Und zwar mit einer ungeheuren stilistischen Vielfalt, die eigentlich jeden an irgendeiner Stelle abholt, davon mal abgesehen dass das Publikum wie in jedem Jahr höchst aufgeschlossen ist und sich auch für die eröffnenden Acts schon mit beachtlicher Präsenz Zeit nimmt (deren Slots aber wie gewohnt mit Startzeit 15:00 auf der Waldbühne und im Spiegelzelt auch sehr Campingplatz-Action-freundlich gelegt sind). Den Auftakt macht BROCKHOFF am Donnerstag, und was für ein schöner Auftakt das ist. Mit einnehmendem Sound zwischen 90s-Pop, Folk und genau der richtigen Prise Fuzz genau das richtige, um entspannt ins Festival zu sliden. Buntspecht liefern kunstvollen Kammerpop mit Austro-Flair, Los Bitchos reißen die Hauptbühne ab und sind völlig zurecht in aller Munde mit ihrer mitreißenden Symbiose aus Cumbia und Garage Punk, und Curtis Harding zeigt auf beeindruckende Weise, wieso niemand an ihm und seiner Band vorbei kommt, wenn man im Jahr 2022 über Soul spricht. Ganz wunderbar. Get Jealous, die einzige Band, die die Workshop-Bühne bespielen darf, machen mit ihrem Skate-Punk-Pop auch absolut alles richtig. Aber die Herzen gehören heute dem Isländer Dadi Freyr, der mit seiner faszinierend tiefen Stimme über flirrendem Disco-Pop unfassbar Spaß macht. Die Story rund um seine Hätte-Würde-Könnte-Präsenz beim Eurovision Song Contest dürfte allenthalben bekannt sein; Dadi Freyr hat sich davon emanzipiert und füllt den Headliner-Slot am Donnerstag mit ungeheurer Spielfreude, covert zwischendrin mal eben Smash Mouths „All Star“ und sogar den „Ententanz“ (was auf genau die richtige Weise albern ist) und bringt die Crowd für den ersten Tag angemessen ins Bett. Über den Freitag könnte ich versuchen, komplett objektiv zu sprechen. Was natürlich nicht so einfach ist, weil ich ab jetzt dank der Tiny Wolves meine eigene Appletree-Geschichte erzählen kann. Also versuche ich es erst gar nicht. Denn na klar erfüllt sich da auch für mich ganz persönlich heute ein Traum. Nach so vielen Jahren als Besucher stehe ich jetzt selbst auf der Bühne mit Blick auf die Bäume und die Lichter, zusammen mit meinen Lieblingsmenschen; das kann ich weder unemotional noch neutral nachbetrachten, man sehe mir das nach. Und gleichzeitig sitze ich und schreibe an diesem Abschnitt am längsten, weil es mir selbst Tage später noch schwer fällt, Worte zu finden. Nachdem wir schon 2020 hätten kommen dürfen und auch 2021 eingeladen waren, klappt es dieses Jahr endlich und achtunddreißig 7- bis 12jährige steigen mittags aus dem Bus, machen große Augen und spielen um 15:00 eine Show vor einem immer größer werdenden Publikum, an die sie sich ihr Leben lang erinnern werden. Diesen Nachmittag hätte ich mir nicht schöner malen können. Dass so viele Leute da stehen und gar nicht mehr aufhören wollen zu jubeln ist unbeschreiblich. Es gibt Tränen vor und sogar auf der Bühne, denn auch die Tinies können das nicht so recht fassen und schwanken zwischen purer Euphorie und tiefer Rührung über so viel Liebe, die ihnen da entgegen schlägt. Glückseligkeit und Dankbarkeit überall, der Tag geht viel zu schnell vorbei; nach einem kurzen Acoustic-Gig um 18:20 fährt der Bus wieder nach Hause und ich platze vor Eindrücken und ich weiß, wer noch. Trotz inzwischen einiger Konzert- und Festivalerfahrung ist jede einzelne Tiny Wolves-Show immer noch sehr besonders für uns, und das heute war atemberaubend. Auch ich werde das nie vergessen. Während die Crew beim Softeis-Stand von Frozen Vegan für Rekordumsätze sorgt, genieße ich die unglaubliche Coolness von Sharktank, irgendwo zwischen Hiphop und Indie-Pop, sehr stark. Auch der Dreampop von Thala, der von Platte eher in Richtung Mazzy Star driftet, live aber deutlich druckvoller gespielt wird, ist eine große Bereicherung. Und The Holy brennen ein weiteres Mal ein Postpunk-Feuerwerk ab, düster und vielschichtig, aber höchst versiert und auf den Punkt intensiv. Black Sea Dahu gehören für mich zu den großen Highlights, wunderbar emotionaler Folk-Pop mit enormer Tiefe. Die Band war schon 2021 beim Mini-Appletree dabei; sie steht völlig zurecht ein Jahr später auch vor der großen Crowd. An Team Scheiße scheiden sich währenddessen die Geister, und das ist auch gut so, denn auf nichts anderes läuft es hinaus. Ein absolut zwingendes Punkrock-Happening, das die einen komplett groß finden und die anderen nur anstrengend. Ich verstehe beide Seiten, und freu mich gleichzeitig diebisch, dass es so etwas auf den Festivalbühnen dieses Landes gerade gibt. Der Abend endet mit drei absoluten Granden der aktuellen Indiepop-Szene: Roy Bianco & Die Abbrunzati-Boys betören mit ganz viel Charme und ihren Italo-Schlagern wie „Maranello“ und „Was kostet Amore?“ und haben selbst unglaublich viel Spaß dabei. Provinz würden, wenn es Corona nicht gegeben hätte, vermutlich schon längst nur noch auf viel größeren Festivals spielen; für mich ganz klar der heimliche Headliner des Wochenendes. Da sitzt jeder Song und wird frenetisch bejubelt vom durch und durch textsicheren Publikum, das ist große Festival-Experience. Und Faber, ja: Musikalisch ist das über absolut jeden möglichen Zweifel erhaben. Das steht außer Frage. Aber lässt sich sein Aufruf, dass an diesem Wochenende bitte niemand angefasst wird, der das nicht will, mit den Lyrics vieler seiner Songs vereinbaren? Das eine Haltung; das andere eben nun mal Kunst? Der Crowd jedenfalls gefällt es sehr. Der Samstag startet mit endlos coolem Soul und Funk von The Lips, die würde ich gerne öfter sehen. Oehl streicheln die Seele mit ihrem melancholisch-hymnischen Pop. Rikas bringen die Blaupause für sonnengetränkten Indie-Pop auf die Bühne, herrlich tanzbar, strahlend und umarmend. Die Düsseldorf Düsterboys beweisen mit ihrer einnehmenden Harmonieseligkeit über intimem Synth-Folk, warum sie 2020 beim Reeperbahn Festival völlig zurecht den VUT-Award als beste Newcomer bekommen haben. Den Vorschusslorbeeren werden sie gerecht; das ist einfach immer wieder großartig. Und Kat Frankies zutiefst präzise Folk-Oden greifen sowieso immer tief ins Herz. Überhaupt ist der Samstag ein guter Tag für Highlights: Die wunderbare Noga Erez zum Beispiel, bei der es absolut niemand schafft, still stehen zu bleiben. Im Spannungsfeld zwischen Hiphop und tiefer Elektronik bewegt sich die israelische Künstlerin zwischen Wut und enormer Coolness, das ist ganz weit vorne. Wie auch Kakkmaddafakkas Rückkehr zum Appletree, das sind ja fast schon Diepholz-Veteranen, immer noch mit so viel Hits am Start dass es schier unglaublich ist, dazu auf dringlichste Weise tanzbar und ungeheuer sympathisch. Edwin Rosen im rappelvollen Spiegelzelt ist eh einer der Newcomer der Stunde, und ich bin immer wieder begeistert über diese hochpräzise-düsteren Klangkonstrukte zwischen 80er-Synthpop und NDW-Charme im Gegensatz zu diesem ultra liebenswürdigen Studi, der sich entschuldigt dass er noch nicht genug Songs hat um das komplette Set zu füllen, sodass er seine bekanntesten Stücke einfach zweimal spielt und sich so wunderbar freut, dass ihm Leute zuhören. Ungut, dass gleichzeitig Altin Gün auf der Waldbühne spielen, da mag man sich zerreißen können. So geht halt nur erst das eine, dann das andere. Die niederländisch-türkische Band hat mir mit ihrer Show beim Appletree 2018 meine Platte des Jahres beschert, ich war komplett von den Socken. Der Mix aus türkischer Folklore, Psychedelic und Funk hat nichts an Wirkung verloren. Kein Fuß steht still, das ist immer noch vollkommen faszinierend. Und Metronomy sind dann der absolut würdige Headliner, der große Name auf dem Plakat, dem die Band gerecht wird. Zu Hits wie „The Look“ und „The Beach“ hat man schon 2011 beim Appletree getanzt, dass die Band hier heute wieder steht ist gleichzeitig ein herrliches Revival alter Gefühle und die Erkenntnis, dass Metronomy auch vier Platten nach „The English Riviera“ für die Indie-Szene zwingende Relevanz besitzen. Ein mehr als starker Abschluss des Wochenendes. Wobei, nicht ganz: Ravi Kumar beschwört auf der Waldbühne noch die Wall of Love, bezeichnender kann es wirklich nicht enden, dieses Geburtstags-Appletree. Eines Wochenendes, an dem einem wieder einmal mit enormer Vehemenz klar geworden ist, warum ein Ort wie das Appletree Garden Festival so gefehlt hat seitdem ab März 2020 nichts mehr war wie vorher. Es ist die Liebe, die man hier an jeder Ecke, auf jedem Pfad, mit jedem Blick und in jedem Atemzug spürt. Das Festivalgelände mit all seinen Lampions und Lichterketten, den wieder einmal hingebungsvoll arrangierten Regenschirm-Glitzer-Skulpturen die jeden Tag ab Spätnachmittag in den Himmel gereckt werden und den außerirdischen Blüten, die nachts die Atmosphäre bunt färben, ist der heimliche Star hier, Jahr für Jahr für Jahr. Dass die Besucher*innen diesen kunstvollen Aspekt so kreativ aufgreifen, begeistert mich immer wieder. Auch die Liebe zwischen den Menschen ist allgegenwärtig. Dass es natürlich auch hier ein Awareness-Konzept gibt, ist nötig und wichtig, aber die Farbenfreude, die Aufmerksamkeit und die Gewissheit, hier drei Tage lang sein zu dürfen wer man ist, hat diesen Ort immer schon zu einem besonderen gemacht. Es spricht auch ganz klar für das Festival, dass man immer wieder das Gefühl hat, die Menschen berauschen sich hier aneinander, an einem Lebensgefühl, an einem unausgesprochen verabredeten Haltungskompass, an einer Verbindung, die greift sobald man die Pforte zum Wald durchschreitet. Spätestens dann. An wenigen anderen Orten ist es so sehr spürbar wie hier. Und daher kommt dieses Unsterblichkeitsgefühl, von dem Dirk Gieselmann spricht. Das ohne Zweifel pathosgeladen ist, aber wahrhaftig. Wer dabei war, wird es verstehen. In diesem Sinne: Happy belated Birthday, Appletree Garden Festival. Ich freu mich auf alles was kommt mit dir! Text: Kristof Beuthner]]> Artikel Tue, 09 Aug 2022 17:20:09 +0200 So schön, dass ich das sagen darf: Nillson beim Orange Blossom Special 2022 http://www.nillson.de/artikel/lesen/so-schoen-dass-ich-das-sagen-darf-nillson-beim-orange-blossom-special-2022.html Nach drei Jahren, die inmitten einer weltweiten Pandemie und globaler Brandherde überall immer noch unwirklich und wie ein diffuses Loch im Zeitstrahl wirken, trafen wir uns wieder im Glitterhouse-Garten. Was das bedeutet hat, lässt sich ohne Emotionalität gar nicht erzählen. Darum werde ich es auch gar nicht erst versuchen. „99% der Weltbevölkerung geht es schlechter als uns. Wir sind Privilegierte, zwar manchmal mit Knoten im Herzen, aber wir alle verdrängen gerne. Wie Dickschiffe.“ Was aber ebenso unumstößlich klar ist: Wenn wir dem Unbill der Welt mit aufrechtem Gang und in die Luft gereckter Faust standhaft entgegen treten wollen, müssen wir ab und zu die Akkus wieder voll machen. Uns vergewissern, dass da noch andere sind, die mit uns fühlen und in die gleiche Richtung laufen statt – so fühlte sich das in den letzten Jahren halt manchmal an – schlingernd und haltlos durch den Äther zu trudeln. Dass wir genau da thematisch jetzt eben doch wieder beim Orange Blossom Special sind, mag sich kitschig und unangemessen lesen, aber halt nicht für die, denen dieses Festival ein solcher Ort der emotionalen Regeneration ist. Dass es aufgrund vieler Unwegbarkeiten (zu denen, auch das ist Teil der Wahrheit, sicherlich auch ein Wust von aufgeschobenen Unternehmungen und Feierlichkeiten zählen, die nach dem Wegfall der meisten Corona-Maßnahmen nun den Kalender sprengen) erstmals seit 2010 dazu kommt, dass das OBS nicht ausverkauft ist, muss man ins Verhältnis setzen können. Es möge sich bitte nicht nachhaltig auf die Planungssicherheit des Orange Blossom Special auswirken. Wer dabei ist an diesem denkwürdigen Wochenende, der fühlt mit Leib und Seele. Viele Bilder bleiben mir im Kopf. Ich glaube, ich habe selten so viele weinende und ergriffene Menschen im Glitterhouse-Garten gesehen wie bei diesem vierundzwanzigsten Orange Blossom Special. Dazu aber auch auf keine vergleichbare Weise ein so breites Grinsen beim Betreten des Geländes, auch ich muss ausgesehen haben wie ein Honigkuchenpferd. Im Backstage gibt es nun das „ÖBSchen“, einen Kita-Raum für die Crewkinder, von denen es inzwischen einige gibt. Drei Jahre sind halt eine lange Zeit gewesen. Da wird aber noch viel deutlicher, was das hier für eine Familie ist. Die ganz kleinen gehören mehr denn je dazu in diesem Jahr. Und wenn ich da kurz aus dem noch etwas privilegierteren Nähkästchen eines Hinter-die-Kulissen-Blickers erzählen darf: Am letzten Abend brechen auch im Team alle Dämme, denn der Beverunger Stadtkrug, normalerweise Aftershow-Anlaufstelle Nr. 1, hat dieses Jahr am Pfingstsonntag geschlossen und man bleibt hinter der Villa zusammen. Weil die Musik aus der Dose irgendwie nicht ans Laufen kommt, springen einfach die Jungs von Tom Allan & The Strangest und Trixsi ein, eine Gitarre steht ja eh immer irgendwo rum (oder haben Mudlow die tatsächlich vergessen?), und der gesamte Hinterhof tanzt, singt und liegt sich in den Armen. Du kriegst die Menschen aus dem Strahlen, aber das Strahlen nicht aus den Menschen. Was für ein wundervolles Gefühl, hier mittendrin zu sein (und vielleicht eine Überlegung wert, das beim nächsten Mal einfach wieder zu machen?). Ist es bezeichnend, dass ich in meinem Word-Dokument jetzt schon auf Seite 3 angekommen bin und immer noch nichts über die Musik erzählt habe an diesem Wochenende? Ja, absolut. Denn auch wenn die auftretenden Bands und Künstler natürlich das Kernthema eines Musikfestivals sind, stehen sie dieses Jahr dann doch mal eher an (immer noch sehr hoch einzuschätzender) zweiter Stelle – was auch wieder Bände spricht, aber gerade deswegen auch überhaupt nicht abschätzig gemeint ist. Sie sind unverzichtbar und sichtbar genau so beeindruckt von der überwältigenden Gefühlsintensität dieser besonderen Festivalmomente, allein die generelle Wiedersehensfreude ist noch ein Mü größer. Wunderbare Konzerte gab es trotzdem zuhauf. Das ursprünglich für 2020 geplante Lineup ist in allerweitesten Teilen zusammen geblieben, und warum auch nicht? Husten um den geliebten Gisbert zu Knyphausen müssen aufgrund von Corona-Nachwehen noch kurzfristig passen und Thees Uhlmann darf aufgrund von Gebietsbeschränkungen seitens des großen Hurricane Festivals nicht kommen – eine komplette Absurditätsspitze gewahr der Tatsache, dass Scheeßel doch eine ganze Ecke von Beverungen entfernt liegt und das Publikum bei beiden Festivals doch wohl unterschiedlicher nicht sein könnte, aber sei’s drum. Jeder einzelne, der an diesen drei Tagen auf der Bühne steht, hat verdient, gehört zu werden. Gleich zwei der großen Gewinner vom letzten Jahr (haha, ich weiß, es müsste „vom letzten Mal“ heißen, aber da diesen Versprecher ungefähr fast jeder macht, sehe ich keinen Grund, was anderes zu schreiben) stehen auch 2022 wieder hier, und beide sind inzwischen Glitterhouse-Recording-Artists: Cash Savage & The Last Drinks bringen ihre unbeschreibliche, hochemotionale, druckvolle Energie diesmal als „Freitags-Headliner“ zurück. Was für eine Entdeckung. Tom Allan & The Strangest haben 2019 die Mini-Bühne (die übrigens dieses Jahr den Namen des befreundeten T-Mania-Festivals trägt; einer Versteigerung der Namensrechte für ein Jahr zugunsten des OBS-Fortbestandes sei Dank) in unvergleichlicher Manier eingenommen; Rembert musste das Publikum mehrfach auffordern, mit dem Applaudieren und Jubeln doch bitte so langsam aufzuhören und zur Hauptbühne zurückzukehren. Eine Rückkehr war beschlossene Sache und lohnt sich natürlich; der Band merkt man die drei Jahre Weiterentwicklungszeit an, das ist genau der energiegeladene Indie-Rock (mit wunderbar einnehmendem Pop-Appeal), der derzeit in der Musiklandschaft an allen Ecken und Enden fehlt. Ein unheimlich mitreißendes Konzert inklusive Akustik-Zugabe auf dem Wellenbrecher: So macht man das! Als OBS-Veteranen stehen dieses Mal Fortuna Ehrenfeld und Trixsi auf der Bühne, ersterer wie gewohnt mit Federboa und Pyjama (allerdings ohne Puschen, sondern barfuß, aber es ist auch heiß am Samstag), letztere mit der gewohnten, in großschnäuzige Shouts verpackten, alltagsweisen Kumpeligkeit von Jörkk Mechenbier, der auch mit Schreng Schreng & La La wieder den Walking Act gibt und ohnehin inzwischen fest zum OBS-Inventar gehört. Es gibt am Freitag ein Wiedersehen mit Matias Larsson und Linus Lindvall (Golden Kanine), die als Cub & Wolf immer noch ganz wundervolle (und mitunter stark berührende) Folk-Songs schreiben können. Und was das Crewmitglied Jan Korbach mit seiner Doom-Metal-Postrock-Band Neànder da abreißt, ist ein einstündiger Wahnsinn, man fühlt sich wie von einer Dampfwalze überrollt (im durch und durch positiven Sinne). Jenny Apelmo Mattsson kennt das OBS ebenfalls schon ziemlich gut, war schon ein paar Mal mit Torpus & The Art Directors da und spielt jetzt mit jenobi wunderbar angedunkelten Indie-Folk mit eindeutig spürbarer Wut im Bauch und Rock-Attitüde, das ist wirklich wundervolle Musik. Beim libanesischen Trio Postcards ist die Richtung ähnlich, wenn auch deutlich sphärischer und verträumter, halt „dream-poppiger“ – wenn auch auf der Bühne nicht viel passiert, ist es doch genau die richtige Band für einen Mittags-Slot in der Sonne. Dieser Band muss man dringend zuhören. Große Fragezeichen schweben über vielen Gesichtern im Publikum während der ersten Songs von Hope – deren dystopische, elektrifizierte, manchmal beinahe schon technoide Klangkonstrukte sind erstmal nichts, was man im Garten gewohnt ist, aber die Intensität baut sich immer mehr auf und am Ende wollen die vielen klatschenden Hände Christine Börsch-Supan und ihre Band gar nicht mehr von der Bühne lassen. Das hat mir unfassbar gut gefallen. Vertrautere Klänge für die OBS-Crowd bringen Drens (übrigens auch frisch bei Glitterhouse gesignt!) mit ihrem wild-mitreißenden Mix aus Surf- und Garage-Punk unter den Kronleuchter, und eine Band wie DeWolff kann mit ihrem derart auf den Punkt gespielten Blues Rock sowieso eigentlich nur gewinnen: So viel Bock wie die haben kann nicht auf eine Bühne passen, da musst du dich schon ab und zu auch mal in die Menge schmeißen. Um den Surprise Act ranken sich wie immer wilde Gerüchte: Ist das eigentlich so, dass die Gebietsbeschränkungen vom Hurricane nicht gelten, wenn Thees Uhlmann gar nicht auf dem Poster steht? AnnenMayKantereit können es nicht sein, die haben Corona. Aber Skinny Lister sind grade auf Tour und Get Well Soon haben eine neue Platte draußen, das wär doch auch beides gut! Es kursiert auch der Name Olli Schulz und zieht seine Kreise. Mit den Dänen von D/troit hat keiner gerechnet. Es ist trotzdem eine perfekte Wahl. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie eine skandinavische Band so authentischen und mitreißenden Soul spielen kann – ein durch und durch starker Auftakt in den Sonntag. Niels Frevert und Eliza Shaddad bringen den Samstag bzw. den Sonntag würdevoll zu Ende, hohe Sympathiewerte, große Grandezza – wenngleich es auch schwer ist, nach ihren jeweiligen Vorgängern aufzutreten, die die Messlatte auf ihre ganz eigene Weise äußerst hoch gelegt haben. Wenngleich sich mir die große Begeisterung für July Talk aus Kanada nicht in Gänze erschließen mag, macht mich das Konzert von Alex Henry Foster & The Long Shadows völlig fertig. Ich war sehr gespannt, wie das im Garten funktionieren würde. Beim Reeperbahn Festival 2019 (über das im Zuge der Show oft gesprochen wird) brachten die Kanadier drei Songs in 45 Minuten unter, das ist schon sehr besonders. Aber kann man überhaupt Songs dazu sagen? Es sind eher ausufernde, epochale Manifestationen zwischen Impro-Clash, Postrock, Shoegaze und Prog, zwischendurch bedächtig ruhig, sich dann aufbauend und ausbrechend bis zum emotionalen Überkochen, repetitiv, treibend, hypnotisch, was bitte geht da ab? Und dazwischen offenbart sich ein Künstler mit einer Hingabe, die zum Teil dargeboten wirkt wie bei einem höchst kathartischen Poetry Slam, mal flehend und hochemotional, dann wieder in sich gekehrt, ach: das ist mit Worten echt schwer zu beschreiben, zählt aber vielleicht zu meinen Top 3 Konzerten der jüngeren OBS-Vergangenheit. Alex Henry Foster beschwört die Verbindung, die Musik zu schaffen in der Lage ist, und die dadurch entstehende Community als Antwort auf all den Hass und das Üble in dieser Welt. Da ist er hier natürlich genau am richtigen Platz. Er zelebriert die Begegnung, lässt sich auf Händen durch den ganzen Garten tragen, drückt einer Zuschauerin die Gitarre in die Hand (auch sie spielt auf den Händen des völlig faszinierten Publikums) und ist auch im Anschluss ein ungeheuer sympathischer Gesprächspartner – wer danach nicht komplett platt ist, war nicht dabei. Ja, es war eine ganz besondere Rückkehr „nach Hause“ in diesem Jahr. Man hat gespürt, wie das fehlte. Das Zusammensein, die Einigkeit, die Liebe. Wenn auch die Veranstaltungs-Branche die Auswirkungen vieler Einflussfaktoren spürt und sicherlich noch eine ganze Zeit lang spüren wird, dürfte sich jeder, der an diesem Pfingstwochenende in Beverungen war, daran erinnert haben, was es ausmacht, für die gemeinsame Sache inmitten von Menschen zu sein und in Unmittelbarkeit ein großes Gefühl zu teilen. Die letzten Jahre haben an uns gezerrt und gerissen, aber gebrochen haben sie uns nicht. Das ist eine wohltuende Erkenntnis. Es mag so sein, dass die Widrigkeiten der Welt laut und groß sind. Aber um ein Bild von weiter oben wieder aufzugreifen: Das Orange Blossom Special hat geholfen, unseren Energiereserven eine dringend benötigte Auffrischung zu verleihen. Egal ob wir nun vor, hinter oder auf der Bühne standen. Dass ein so vergleichsweise kleines Festival so etwas vermag, macht mich auf lange nicht erlebter Weise sehr dankbar. Es hat uns darin bestärkt, was wir die ganze Zeit tief im Inneren wussten, aber alleine in unseren eigenen vier Wänden kaum noch physisch zu spüren in der Lage waren (frei nach Thees Uhlmann): „Alles wird gut, denn es gibt sie da draußen, diese schönen, schönen Menschen, denn ich habe tausende gesehen. Und ich kann sie verstehen“. Im nächsten Jahr werden wir das alle wieder brauchen, und auch, wenn wir gelernt haben, demütig zu sein und nichts mehr vorauszusetzen: Die gute Hoffnung, dass es passieren wird, hat wieder Nahrung bekommen. Als selbstverständlich werden wir es vielleicht noch eine ganze Zeit lang nicht wieder hinnehmen. Mag sein, dass wir alle das Gefühl rund um das Orange Blossom Special mit allen Extraschippen Pathos aufladen, die wir haben. Aber genau so ist es richtig und genau so ist es gut. Denn, um es mit den Worten von Martin Bechler von Fortuna Ehrenfeld zu sagen: „In ein paar wenigen Minuten, an diesen ganz besonderen Tagen, ist die Welt gar nicht so scheiße wie sie alle immer sagen“. Dem bleibt, das glaube ich, bis auf weiteres nichts mehr hinzuzufügen. Text: Kristof Beuthner]]> Artikel Tue, 07 Jun 2022 14:28:41 +0200 2020 was a mess but the Musikjahr had it's moments: Nillson-Jahrescharts 2020 http://www.nillson.de/artikel/lesen/2020-was-a-mess-but-the-musikjahr-had-its-moments-nillson-jahrescharts-2020.html Ein Jahr ist zu Ende, das wir nie vergessen werden. Und das ist natürlich nicht positiv gemeint. Das Corona-Virus mit all seinen Auswirkungen hat unser Leben, wie wir es kannten und liebten, lahm gelegt in so ziemlich allen möglichen Bereichen. Es fällt schwer, da die Sonnenstrahlen herauszupicken. Und doch hat es sie gegeben. Zum Beispiel in Form dieser 30 Platten, die uns in diesem Jahr dann doch irgendwie glücklich gemacht haben. Und euch vielleicht auch. Habt Spaß mit den Nillson-Jahrescharts von 2020! Artikel Fri, 15 Jan 2021 14:49:05 +0100 Ist nicht alles so, wie's soll: Nillson beim Orange Blossom Special 2020, zuhause. http://www.nillson.de/artikel/lesen/ist-nicht-alles-so-wies-soll-nillson-beim-orange-blossom-special-2020-zuhause.html Was für ein Pfingsten ist das? Was für ein JAHR ist das? „Ist nicht alles so wie’s soll, es ist ordentlich verkorkst, aber was du sagst, ist ziemlich schön - es liegt nicht an dir. Wir können nichts, wir können nichts dafür“, sang Moritz Krämer einst, und das würde ich einfach mal so stehen lassen wollen. Artikel Mon, 01 Jun 2020 15:11:13 +0200 The Musikjahr was a tiny bit of heaven: Nillson-Jahrescharts 2019 http://www.nillson.de/artikel/lesen/the-musikjahr-was-a-tiny-bit-of-heaven-nillson-jahrescharts-2019.html Ein Musikjahr geht zu Ende und ein neues wird ihm folgen. Wie wird es klingen? Das können wir noch nicht ahnen! Und Vorfreude ist ja bekanntlich sowieso die schönste Freude. Der Nostalgiker in uns hat zwischen den Jahren aber auch eine gute Zeit. Er darf allüberall auf ganz unterschiedliche Weise erfahren, welche Alben den unterschiedlichsten Menschen im vergangenen Jahr 2019 am besten gefallen haben. Welche für sie wichtig waren, welche für sie Mauern eingerissen haben, neue Welten eröffneten oder sie mal himmelhochjauchzend in die Luft schweben oder zu Tode betrübt an den Sessel fesselten, einfach weil sie zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Ohr waren. Das schafft auf diese Weise immer noch nur die Musik. Danke dafür! Damenundherren, lesen Sie über die 30 Lieblingsplatten von Nillson.de und beginnen Sie damit: Jetzt. Artikel Sun, 29 Dec 2019 16:16:26 +0100 Von der Kunst des Weglassens: Nillson beim Reeperbahn Festival 2019 http://www.nillson.de/artikel/lesen/von-der-kunst-des-weglassens-nillson-beim-reeperbahn-festival-2019.html Vier wunderbare Tage voller Musik und wundgelaufener Füße: Das war das Reeperbahn Festival 2019. Die Überreizung als Chance, ein ganzer Berg neuer Eindrücke und schöner Erlebnisse, famose Gespräche und alte Freunde, all das wiegt den Druck auf, gefühlt an 30 Orten gleichzeitig sein müssen zu wollen. Das funktioniert nirgends besser als hier.
All die Menschen mit Namensanhängern um den Hals sind die Multiplikatoren dieses Sprungbretts, das so viel bedeuten kann; sie alle entscheiden über Gedeih und Verderb, zumindest fühlt sich das so an. Geht der Daumen hoch, gibt es vielleicht eine Chance auf Plattendeals bei den renommierten Indie-Labels oder einen Platz im Booking-Roster von Agentur XY. Senkt er sich, ist die Möglichkeit gegeben, dass dieses Land all diese Bands und Künstler nie mehr wieder sieht. Das hat zweifelsohne, betrachtet man es negativ, etwas von einem Viehmarkt, bei dem es um die Berechnung von Optionen geht. Es kann aber auch ein wunderbarer Startschuss sein. Hinzu kommen Präsentationen von Labels, die sich ihrer Sache bereits sehr sicher sind und einen Einblick in ihr Schaffen und ihr Aufgebot geben mögen - eine Art Status-Darbietung: Hier stehen wir zu diesem Zeitpunkt. Lernt uns kennen! Und nicht zuletzt bietet das Reeperbahn Festival auch eine so große Fülle von Clubkonzerten mit bereits arrivierten Helden, die man lange nicht gesehen hat, denen man endlich einmal näher auf den Zahn fühlen darf oder deren Konzert zum guten Ton gehört, wenn man sich mit Musik auszukennen behauptet.

Zwischen all den Receptions, Free Drinks und Networking Events, Panels und Awards bleibt zum Glück aber immer wieder auch Zeit für Zwischenmenschliches. Das ist es, was das Reeperbahn Festival trotz dieser zum Teil unmenschlichen Überreizung so besonders und wunderbar macht. Wie schnell steht man neben einer Person, mit der man als Mensch der Musikszene schon einmal per Mail kommuniziert hat, und freut sich, zum geschriebenen Wort endlich auch ein Gesicht zu haben. Wie spannend ist es, neue Kontakte zu knüpfen, sich auszutauschen und sich zu freuen, wieder ein paar mehr Leute zu kennen, die wie man selbst auf der guten Seite stehen. Von einem Wiedersehen mit guten Typinnen und Typen, die man mindestens nur hier trifft, ganz zu schweigen. Das gute Gefühl, als Mensch, der gern gehabt wird, nicht vergessen worden zu sein, auch wenn man aus verschiedentlichen Gründen sein Medium nicht so gut pflegt wie in alten Tagen, ist Gold wert. Nicht allem lässt sich so gerecht werden, wie man es gern hätte. Wer aber die vier Tage auf der Reeperbahn ungenutzt lässt, ob nun in privater oder beruflicher Hinsicht oder im freudvollen Mix aus beidem, der macht etwas falsch.

Fakt ist: Man muss entscheidungsfreudig sein. Dazu gehört nicht nur, sich beim fett auf dem Plan vermerkten Konzert auch mal mit langen Schlangen vor der Tür zu arrangieren, sondern auch, weglassen zu können, wenn klar ist, dass ein spezielles Event einem zu viele andere Türen verschließt. So gerne ich würde, die Konzerte in der Elbphilharmonie im Rahmen des Reeperbahn Festivals werde ich wohl immer verpassen müssen. Was in diesem Jahr sicherlich mindestens für die Performance der Dänen von Efterklang überaus schade ist. Aber all die guten Schnacks und kurzen Peeks auf Künstler, von denen ich noch nie etwas gehört habe, für ein (inklusive An- und Abreise per U3) zweistündiges Mega-Event zu opfern, kommt mir leider noch nicht wie eine gute Alternative vor. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Konzerten im Michel. Geh ich hin und komm nicht rein, was mach ich dann? Diese Gemengelage hat mich im vergangenen Jahr sogar dazu gebracht, freiwillig ein Kirchenkonzert meiner geliebten Get Well Soon zu verpassen.

Und all die anderen „wichtigen“ Konzerte, die ich gesehen haben müsste - Feist im Rahmen der Open Doors Show im Stage Operettenhaus, die Sleaford Mods im Docks, um nur zwei zu nennen - scheiterten bei mir an den zu guten Alternativen. Mal war das schade, mal hinnehmbar. Und jedes Mal, wenn die App auf meinem Smartphone aufploppte und herausschrie: Einlassstopp hier! Einlassstopp dort! war ich mir sicher, mich richtig zu entschieden haben, weil ich mich in aller Regel gerade an einem Ort irgendwo auf Hamburgs großer Amüsiermeile und umzu befand, an dem es sich für mich gerade gut anfühlte. Dass die Foals verletzungsbedingt kurzfristig absagen mussten, hatte bei allem Mitgefühl für die Band sogar etwas zeitplantechnisch erleichterndes - dass Warner Music dann als Alternative ausgerechnet den durch seine Texte homophob und frauenfeindlich auftretenden Rapper Bausa aus dem Hut zauberte, geriet sogar zwischenzeitlich zum Politikum. Wie konnte ein Festival, das sich als großer Unterstützer der Keychange-Bewegung, die dafür sorgt, dass Frauen in ihrer Kunst eine breitere Bühne geschaffen wird und sich stark gegen Diskriminierung und Misogynie macht, mit jemandem einlassen, der diese antiquierten Haltungen, scheingerechtfertigt mit erschreckend hohem Charts-Airplay, nach wie vor für salonfähig hält? Das sorgte für Kopfschütteln allenthalben und freute wohl nur die in weiten Teilen unreflektiert feierfreudige Masse an Teenies und die Unverdrossenen, die aus Rap-Pamphleten der Marke Bausa irgendeine Form von Ironie herauslesen möchten. Für mich definitiv ein Grund, das Docks weiträumig zu umschiffen. Kein Problem mit Weglassen an dieser Stelle.

Manchmal konnte man auch durch das Weglassen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, ganz zufällig natürlich. So durfte ich einem Konzert von Kraftklub-Frontmann Felix Brummer beiwohnen, der unter dem Alter Ego Kummer den HipHop-Anteil seiner Hauptband pflegt (aber mit Haltung, Freunde!) und auf einer Bushaltestelle mitten auf der Reeperbahn performt, wobei er den Verkehr für kurze Zeit komplett lahm legt. Musikalisch muss man das nicht feiern, aber beachtlich ist das Ganze schon. Gerne wäre ich auch bei dem Überraschungs-Gig von Deichkind vorm Millerntor-Stadion dabei gewesen - da die Show aber angekündigt war, verzichtete ich schweren Herzens darauf. Immerhin standen längst etliche gute Alternativen fest. Auch Spontaneität muss man mal weglassen können.

Keine Kompromisse gibt es für mich hingegen beim Helga!-Award, der dieses Jahr erstmals von den geschätzten Kollegen von Höme! - Das Magazin für Festivalkultur kuratiert wird. Moderiert von Ex-Festivalguide-Chef Carsten Schumacher und dem unverwüstlichen Bernd Begemann ist diese Preisverleihung im Gegensatz zu den prestigeträchtigen VUT und ANCHOR oder auch dem New Music Award, der dieses Jahr zum ersten Mal im Rahmen des Reeperbahn Festivals ausgetragen wurde, eher eine semi-ernste Angelegenheit. Das Credo ist eher: Viel schnacken, viel trinken, viel lachen. Schade nur, dass der diesjährige Helga doch zunehmend lang und weilig geriet, spätestens mit einer nicht enden wollenden Boris Johnson-Persiflage wurde die Aufmerksamkeitsspanne im Imperial Theater spürbar dünner.

Die Videoshow der obligatorischen „Kategorien, die es leider nicht zu den Helga-Awards geschafft haben“ und das wie gewohnt gute Zusammenspiel des Moderatoren-Duos Schumacher/Begemann haben trotzdem Spaß gemacht. In den Reihen der Prämierten befinden sich in diesem Jahr das Open Flair in der Königskategorie „Bestes Festival“, das Watt en Schlick gewinnt den dritten Award in Folge, diesmal für das „größte Glück für den kleinen Geldbeutel“. Das Zurück zu den Wurzeln wird für das „beste Einbeziehen“ ausgezeichnet, den Preis für das „beste Booking“ gewinnt in diesem Jahr vollkommen zurecht das Haldern Pop. Für einen besonderen Moment sorgt der Veranstalter des Alinae Lumr Festival, der in seiner „Dankesrede“ (das Festival in Storkow hat den Preis für die „inspirierendste Festival-Idee“ nicht zu Unrecht gewonnen) eine Lanze für Keychange bricht und fordert, der Helga sollte doch wenigstens anteilig auch von einer Frau moderiert werden, womit er Bernd Begemann merkbar auf die Palme bringt und ihm ein trotziges „Klugscheißer!“ entlockt. Begemann schleudert ihm schließlich hinterher: „Und die Frau hier neben dir auf der Bühne lässt du kein einziges Mal zu Wort kommen!“. Ja, Keychange funktioniert anders, wenn man so will. Das Alinae Lumr ist trotzdem dringend besuchenswert. No offense!

Um Festivals geht es logischerweise auch auf dem Panel „Bewährungsprobe für Festivals“, das von Orange Blossom Special-Oberhaupt Rembert Stiewe moderiert wird und mit Lisa Canehl vom Appletree Garden, Timo Kumpf vom 2020 pausierenden Maifeld Derby, Stefan Reichmann vom Haldern Pop und Carsten Helmich vom JuicyBeats eine illustre Runde in der Speakers Corner der Suite 616 im Arcotel Onyx versammelt. Um eine Marktanalyse soll es gehen - so richtig schlecht geht es aber keinem der vier mit ihren Unternehmungen, die Analyse fällt aus und gerät eher zu einer Zustandsbeschreibung. Da wäre thematisch mehr drin gewesen, aber eine Stunde ist auch verflucht kurz. Die Anschlussgespräche ergeben mehr analytisches - gerne hätte man auch jemanden von einem großen Festival dabei gehabt, die sicherlich einiges dazu hätten beitragen können, inwiefern sich auch die Ansprüche der Konsumenten verändert haben. Die Festivals, um die es hier geht, werden zurecht von ihren Besuchern geliebt, und das wird sich auch in absehbarer Zeit wohl nicht ändern. Aber diese Menschen, die mit ihren Festivals auf der guten Seite stehen, versammelt zu sehen und darüber sprechen zu hören, ist spannend und schön zugleich.

Konzerte gab es dann übrigens auch noch. In diesem Jahr hat zum ersten Mal auch die vormals so angestaubte Country Music einen größeren Platz im Aufgebot des Reeperbahn Festivals erhalten. So darf die Country Music Association mit dem Neon Nashville-Showcase gleich einen ganzen Abend im Touristenattraktions-Irish Pub Thomas Read kuratieren. Das ist und bleibt aber ein komischer Laden, der im realen Leben der Massenabfertigung von Junggesellenabschieden kurz vorm Einbiegen in die Große Freiheit dient. Die rustikal-urige Atmosphäre „richtiger“ Irish Pubs ist hier bloße Behauptung. Da hilft es auch nicht, dass Neon Nashville einen ganzen Tisch mit free Merch (Shirts, Beutel und Caps) aufgebaut hat - irgendwie mag so recht keine Stimmung aufkommen. Mit Blanco Brown, der auf sehr einnehmende Weise Country mit Soul und HipHop vermischt, bekommen wir mit Sicherheit das Highlight im Aufgebot zu sehen. Sehr selbstironisch gibt der Vollbartträger den Crooner und hat spürbar Spaß daran, mit Klischees zu spielen. „The Git Up“ ist ein kleiner Hit, in einem anderen Song singt Brown: „You’re a glass of champagne and I’m tennessee whiskey“. Darf man sich für später merken.

Überraschend schwach gerät das Konzert der Bloxx im Nochtspeicher am BBC Music Introducing-Abend. Dass der Laden nur zu bescheidenen zwei Dritteln gefüllt ist, mag auch an der nicht allzu vorteilhaften Lage des Venues liegen. Aber die Band um Ophelia Booth, die vor zwei Jahren mit „Second Opinion“ zurecht einen Indie-Dancefloor-Hit hatte, lässt insgesamt zu viel Charisma vermissen, spielt sich zwar recht engagiert durch ihr 40minütiges Set, baut aber kein Band auf, auf das sich aufbauen ließe. Solider Indierock mit leichten Shoegaze-Anleihen macht noch keine Liebe. So geht dieser Auftritt leider als Enttäuschung durch.

Ganz anders verhält es sich mit Roast Apple im knallvollen Sommersalon. Das Quartett aus Niebüll dorthin zu buchen, macht namenstechnisch Sinn. Hier gibt es sommerleichten Indiepop mit Anleihen aus Soul und Funk, man hat im Kopfkino den Strand wieder vor sich und das Surfbrett unter den Füßen, und dann heißt ihr erster kleiner Hit auch noch „Scandinavian Summer“ - das klingt jetzt wie eine kaum ertragbare Anhäufung von Klischees, ist aber ungeheuer catchy und herzerwärmend und erinnert an Mitstreiter wie die Rikas oder gern gehabte Vorgänger wie die Isländer von Retro Stefson. Schöne Sache, begeisterte Menschen: Von denen wird man noch hören.

Das gleiche gilt auch für Black Country, New Road, allerdings aus anderen Gründen, beziehungsweise durch eine vollkommen andere musikalische Ausrichtung. Was für ein Klangmonster sich da auf der kleinen Molotow-Bühne aufbauen würde, konnte man im Voraus erahnen, und auf dem Zettel haben durfte man das Sextett aus London durchaus schon vorher. Die pure Wucht, die einem in diesen faszinierenden Sound-Epen zwischen Postrock, Jazz und Avantgarde entgegen schlägt, ist hochfaszinierend; wie eine weniger wilde Version von Black Midi, könnte man sagen. Lange Bläsersätze, Spoken Word-Passagen, ausschweifende Jazz-Intermezi neben malerischen Postrock-Passagen - das bringt einen auf positive Weise ganz schön durcheinander, ein tolles Erlebnis und definitiv ein sehr intensiver Vorbote auf alles, was von dieser Band noch kommen wird.

In der St.Pauli-Kirche gibt es das schönste Konzert des ganzen Festivals zu sehen. Da präsentiert der Münchener Carlos Cipa nämlich sein neues Album „Retronyms“, das wir bereits vorab als jetzt schon beste Contemporary- bzw. Neoclassical-Platte des Jahres adelten. Wie sehr ich mich darin bestätigt fühle, nachdem ich die Kirche wieder verlasse und mich fühle, als müsste ich das geträumt haben. Mit Ensemble an Bläsern und Streichern ist dieses Konzert wirklich ein Fall in eine andere Welt, dem man sich nur zu gerne hingibt, surreal, cineastisch, sehr suggestiv und bis ins Zerbrechlichste filigran gelingt hier ein Trip in so wunderschöne Klangkosmen, dass ich mir mehrfach die Tränen aus den Augenwinkeln wischen muss, einfach weil ich so zutiefst berührt, ergriffen und überwältigt bin. Carlos Cipa hat vor „Retronyms“ zwei Alben veröffentlicht, die sein Klavier in den Fokus stellten, doch mit diesem Ensemble-Sound hat er sich selbst übertroffen. Schlicht und einfach wunderbar.

Ganz enorm beeindruckend gerät auch die Performance vom Kanadier Alex Henry Foster, der sehr eigenwillige Self-Marketing-Ideen mit zum Festival gebracht hat. Gleich am Mittwoch wird man auf dem Spielbudenplatz von langhaarigen Typen in orangenen Knast-Overalls angesprochen, die einem freundlich eine Karte mit den drei Konzertterminen Fosters an diesem Wochenende in die Hand drücken. Der Mann hat was vor, so viel scheint schnell klar; hier möchte jemand, dass man ihm zuhört. Und weil das ganze keine billige Maschine zu sein scheint - die Jungs sind wirklich äußerst freundlich - folgt man dem Ruf gern. Und bitte, was für eine Belohnung. In Angie’s Nightclub spielt Foster mit seiner siebenköpfigen (!) Band, zu der übrigens auch unsere langhaarigen neuen Freunde gehören, exakt drei (!) Songs. Wobei - was heißt hier Songs? Es sind eher urgewaltige Epen, getränkt in tiefer Trauer und Düsternis, getragen von Bläsern und brachialen Riffs, aber eben auch immer wieder von leisen Momenten, in denen Alex Henry Foster zu sich selbst zu sprechen scheint, bevor all die Verzweiflung wieder herausbricht aus diesem kleinen Mann, der trotz (oder gerade wegen) all der deutlich spürbaren Karthasis nach dem Konzert förmlich gelöst mit dem überwältigten Publikum plaudert. Was für ein irrer Wahnsinn.

Kai Schumacher ist dann wieder ein Virtuose am Piano. Sein neues Album „Rausch“ trägt diesen Namen zurecht; was der Mann im Rahmen der Neue Meister-Labelnight im Resonanzraum zeigt, ist pure Kunst. Zugleich der Tradition wie der Moderne verpflichtet paart er ein grandioses wie rauschhaftes Klavierspiel mit beinahe technoiden Vibes, die er mit seinem präparierten Flügel selbst erzeugt. Das ist ziemlich beeindruckend und überwältigend. Genau wie der direkt darauf folgende Auftritt von We Were Promised Jetpacks im Uebel & Gefährlich zwei Etagen höher, die einzigen alten Helden, deren Ruf ich an diesem Wochenende folge. Die Schotten spielen anlässlich des Geburtstages des Debüts „These Four Walls“ das ganze Prachtwerk in voller Länge, ein Fest zwischen Indie- und Postrock, und es funktioniert alles immer noch genau so gut wie vor zehn Jahren. Die Wucht und die Erdigkeit von Stücken wie „Quiet Little Voices“ (immer noch ein Riesenhit) oder „Keeping Warm“ hat nicht das geringste von ihrem Reiz verloren.

Ein paar Kurze gibt es auch. Nicht in Schnaps-, sondern in Konzertform. Ganz wunderbar lässt sich der Auftritt der Dänen von Melby an, die in schönster Herbstsonne auf dem Heiligengeistfeld ihre filigranen Folk-Melodien in den Tag hinein spielen und das Gefühl in uns wecken, als wären wir das Leichteste der Welt. Sehr 60s-referenziell, mit Melodiebögen, die in den seltensten Fällen berechenbar sind, umschmeichelt uns die glockenhelle Stimme von Matilda Wiezell, und in uns wachsen bunte Blumen. Die Mighty Oaks stellen sich am Reeperbus als Trio rein an Gitarren für den Abend im Michel vor - nach wie vor ist alles, was diese Band macht, technisch sehr schön, aber auch nur sehr oberflächlich und somit zu keinem Zeitpunkt intensiv. Ganz anders der Londoner JNR Williams mit einer wunderbar weichen Stimme und einem Sound zwischen Soul und Jazz Lust auf ein Wiederhören macht - und das obwohl wir es nur noch zu zwei Songs von ihm schaffen. Nicht vergessen werden darf die koreanische Band Say Sue Me mit ihrem Lo-Fi-Jangle-Folk-Pop mit knackigen Grunge-Riffs, die klingt, als wäre sie ein vergessenes Relikt aus den 90ern. Die fragile Stimme von Sängerin Sumi Choi tut ihr Übriges; Say Sue Me setzen ein Ausrufezeichen für die koreanische Musikszene. Werden wir uns nochmal in Ruhe anhören!

Beim PIAS BBQ offenbart uns das Hamburger Herzenslabel eine grandiose Bandbreite. Die futuristische Electronica mit nachtschwarzem Pop-Appeal von Mottron ist dabei lediglich interessant; weitaus zupackender klingt die Australierin Ali Barter, irgendwo zwischen den mächtigen College-Riffs von Weezer und dem rootsigen Folkrock der frühen Alanis Morissette. Das hat gleichzeitig Kraft und Verletzlichkeit, und auch Ali Barter gerät stimmlich immer mal wieder in schwer erträgliche Sphären, aber insgesamt macht diese kurze Stippvisite sehr viel Spaß. Die wundervolle Arlo Parks spielt mit ihrer Band sehr versierten Soulpop, wunderbar weich und innig, auch wenn sie sich hier im Backyard spürbar erst einmal finden muss. Das ist definitiv Musik, der man zuhören und folgen möchte; wir sind gespannt auf das erste Album. Der Bruch zu Squid ist dann ein harter: Die Band aus Brighton spielt Working Class Punk, wie er erfreulicherweise derzeit so häufig in guter Qualität von der Insel kommt, gönnt sich dabei aber eine gehörige Portion Avantgarde. Vor allem das Organ von Sänger Ollie Judge, der übrigens gleichzeitig auch der Schlagzeuger ist, ist ein Trademark: Er wechselt in atemberaubendem Tempo zwischen Gebrüll und Falsett, was sehr anstrengend ist, aber den zugleich spielfreudigen und frustrierten Gestus seiner Band perfekt unterstreicht.

Die größte Überraschung des Festivals geht dann aber auch noch rein; die erleben wir zum Abschluss des Wochenendes, nachdem wir uns eigentlich innerlich schon für dieses Jahr vom Reeperbahn Festival verabschiedet hatten. Die Füße tun weh, die Köpfe sind voll von Eindrücken, eigentlich ist es ein guter Moment, um aufzuhören, aber die Pierce Brothers in der Spielbude kann man sich schon noch anschauen. Gute, sehr gute Entscheidung. Das australische Brüderpaar kommt ursprünglich von der Straßenmusik, was man an der rauen Energie ihrer Folk-Songs durchaus noch spüren kann. Aber dass die beiden auf eine so zupackende Weise alles abreißen würden, damit hatte ich nicht gerechnet. In atemberaubenden Tempo mit wirklich beeindruckender Technik spielen die Pierce Brothers alles gleichzeitig, Gitarre, Schlagzeug, Mundharmonika, sogar Didgeridoo, klöppeln sogar auf den Bühnenmasten oder gegenseitig auf ihren Gitarren herum und erzeugen einen so unfassbar wilden Drive, dass vor der Bühne keiner still stehen KANN. Das Songwriting der beiden mag sehr eindimensional sein - alles läuft immer wieder auf ausgedehnte wooo-hooo-Passagen mit ausdrücklicher Einladung zum Mitsingen und den großen Ausbruch am Songende hinaus, aber die ART und WEISE, wie sie trotzdem den Spannungsbogen über eine komplette Stunde aufrecht erhalten, nötigt mir riesigen Respekt ab. Vor allem ist es grandios zu sehen, wie viel Spaß die Pierce Brothers selbst an der ganzen Nummer haben; die genießen hier echt jede Sekunde, und als sie sich am Ende voll des Dankes verabschieden, müssen sie spürbar glücklich und überwältigt mit den Tränen kämpfen. Das geht tatsächlich zu Herzen. Großer Pop, aber dabei auch tatsächlich großes Können - besser als so kann man hier nicht nach Hause gehen.

So hat uns die Kunst des Weglassens tatsächlich wieder ein wundervolles Reeperbahn Festival beschert; auch der Abschluss ist ein feiner Beweis dafür, hatten wir uns doch ganz bewusst dagegen entschieden, noch mehr Zeit in einer endlosen Schlange mitten im Samstagabends-Irrsinn auf der Großen Freiheit zu verbringen und von betrunkenen Partytouristen angerempelt zu werden, bloß weil wir ursprünglich The Subways sehen wollten. Weglassen bedeutet schließlich nicht, dass am Ende nichts mehr übrig bleibt. Oh nein: Wir haben den Stress und den Druck in Bewusstsein für den guten Moment verwandelt, sind lieber mal länger bei einem guten Gespräch sitzen geblieben, als eine Stunde vorher an den beliebtesten Spots zu stehen, nur um dann vielleicht doch nicht eingelassen zu werden. Vom Zwang, wirklich überall da sein zu müssen, wo wir es uns vorgenommen hatten, will ich gar nicht erst anfangen. Es hätte sich ja doch nur in Frust und Hetzigkeit umgekehrt. Wie schnell kann man in der Lage sein, sich auf tolle Musik einzulassen, wenn man noch Sekunden davor wie ein D-Zug über die Reeperbahn gejagt ist? Auf Knopfdruck läuft hier nunmal gar nichts.

Das Reeperbahn Festival funktioniert nun mal über die Flexibilität, das Situative, das Entscheiden. Abermals sind gute Impulse, vertiefte Freundschaften und dann doch überraschend viele eindrucksvolle Musikmomente mein persönlicher Gewinn. Gut, dass das so war. Und wenn ich zuhause meinen Goodie Bag ausleere, finde ich bei all den tollen Eindrücken, die sich erst einmal setzen müssen in mir, im letzten Winkel auch schon wieder eine gute Portion Vorfreude aufs nächste Jahr in Hamburg. Weil sich dieser Overkill auf der Reeperbahn einfach so verdammt schön anfühlt - vorausgesetzt, man ist in der Lage, an den richtigen Stellen zu verzichten.


Text und Foto: Kristof Beuthner


P.S.: Im Gegensatz zu den letzten Jahren sind keine Fotos im Artikel. Auch hier habe ich weggelassen, und zwar ganz bewusst, als mir endgültig klar wurde, dass der Moment nicht durch eine Linse wahrhaftig wird. Ich habe mich lieber dafür entschieden, die Situationen bewusst zu genießen, um im Anschluss davon erzählen zu können. Kein Foto könnte euch nachvollziehbar erzählen, wie beeindruckend etwa das Konzert von Alex Henry Foster war oder wie überwältigend das Erlebnis bei Carlos Cipa in der Kirche. Probiert es mal aus!]]>
Artikel Thu, 03 Oct 2019 13:44:22 +0200