Nun ist es vollbracht, nun liegt es da, das erste Album von Tobias Siebert unter seinem Alter Ego And The Golden Choir. Die EP hatte Appetit gemacht, mächtig Appetit sogar, doch der fertige Longplayer übertrifft alle Erwartungen und ist ein ganz heißer Anwärter auf die Platte des Jahres. Ja, schon jetzt.
Man muss sich das auch einfach mal vorstellen: Da steht der Verfasser dieser Zeilen im Oktober 2009 in Bremen vor einer kleinen Bühne, will eigentlich die fantastischen Sometree sehen, bekommt im Vorprogramm diesen ihm irgendwie bekannt vorkommenden Herrn, der mit Rotweinglas und Plattenspieler die Himmelstore öffnet, ist unfassbar angefixt von der Intensität der Songs und der Magie dieser Solo-und-doch-nicht-solo-Performance - und im Anschluss passiert erstmal gar nichts. Wie groß also die Vorfreude über jeden seitdem veröffentlichten Soundschnipsel war - und war er noch so klein - kann man sich vielleicht vorstellen. Dass es sich dabei um Tobias Siebert handelte, der mir im gleichen Jahr mit dem bis dato letzten Klez.e-Album "Vom Feuer der Gaben" schon ein großes Geschenk gemacht hatte, war mir in dem Moment gar nicht so richtig klar; irgendwie bekam ich die Puzzleteile nicht zusammen gesetzt vor lauter Erstaunen. Doch zurück in die Gegenwart.
"Another Half Life" ist nun also tatsächlich ein Album, von dem ich sagen kann, ich habe es mir fünf Jahre lang gewünscht. Die fünf Songs umfassende Vorab-EP "It's Not My Life" aus dem vergangenen September war, wie sich nun zeigt, ein repräsentativer Vorbote; nur "Follow Angels" hat es nicht auf das Album geschafft. Live ist das Bild, was sich einem bietet, wenn Tobias Siebert zum Sound der über ein Grammophon abgespielten Vinyl-Platte die Gitarre greift und in herzerweichendem Falsett seine Klagelieder singt, schon mehr als bemerkenswert. Aus den heimischen Lautsprechern fällt dieser optische Effekt freilich weg, dafür erhöht sich der Fokus auf die große musikalische Kunst, die sich hier vor einem ausbreitet. Denn Tobias Siebert hat jedes Instrument selbst eingespielt und ist sogar seine Background-Chöre selbst; profitierte dabei ohne Frage vom Luxus eines eigenen Studios und erinnert nicht nur deshalb an die Anfänge eines Konstantin Gropper. Die weitläufige Instrumentierung, die von klassischem Bandequipment über allerlei verschönerndes Schmuckwerk (Streicher, hallo, eine Waldzither!) reicht, malt Bilder in sepia unter die innig-schwebenden Songs, die von Liebe, Tod, Verlust und der Unbegreiflichkeit des Seins und Schwindens handeln. Christliche Metaphorik unterstreicht eine gewisse Nähe zum Gospel, die man vor allem in "My Brother's Home" heraushört. Doch zu keinem Zeitpunkt klingt "Another Half Life" vordergründig sakral, nie gehen die Texte mit offensiv religiösen Gedanken spazieren. Es ist eine feierliche Stimmung, die es trägt; melancholisch und spürbar kathartisch. Dieses Album passt zu einer Kerze und zu Kopfhörern. Wenn man sich noch einmal die Form der Darreichung vergegenwärtigt, ist es quasi die Band gewordene Symbiose aus Hörer und Tonträger, durch die der Hörer selbst das Gefühl bekommt, zum Sprecher zu werden. Kaum ein Liebhaber von Abenden allein mit sich und der Musik, der das nicht nachvollziehen können wird.
Künstlerisch ist es sicherlich eine konsequente Weiterentwicklung Sieberts, der den artifiziellen Charakter schon auf eben erwähntem Klez.e-Album andeutete und ihn ein Jahr später mit noch theatralischeren Versionen der Stücke intensivierte. And The Golden Choir ist Kunst, ist Theater, ist Brillanz, ist Magie. Dass die Stücke auch als Songs so gut funktionieren und nie, wirklich nie in verkopfte Art-Folklore abdriften, ist dem starken Songwriting Tobias Sieberts anzurechnen. So hat "Another Half Life" derartig viele Ansatzpunkte - als Happening, als Kunstwerk, als Folk- und Popalbum -, dass es sehr schwer fallen dürfte, es zu ignorieren. Ich rate davon entschieden ab. Und bin heilfroh, fünf Jahre geduldig geblieben zu sein. Das Warten hat sich gelohnt.
Text: Kristof Beuthner