Manche Alben brauchen ihre Zeit, bis man sich sicher genug fühlt, ihnen durch das geschriebene Wort gerecht zu werden. Die neuen Träumereien des Müncheners Carlos Cipa, der die Klaviersparte des tollen Denovali-Labels seit einiger Zeit so sehr bereichert, gehört dazu.
Denn darin sind wir uns einig, nicht nur, dass intrumentale Musik ohnehin immer eine äußerst suggestive Angelegenheit ist - sie ist auch oder gerade dadurch eine sehr subjektive. Sie zwingt uns Hörer zur Selbstbesinnung und zur Frage: Was hat diese Musik mit mir zu tun? Wie finde ich mich darin wieder? Gelingt es uns, diese Fragen zu beantworten und die Musik für uns persönlich zu interpretieren, ist es eine umso größere Erfahrung, sie durch diesen Prozess bis zum letzten Ton zu verinnerlichen.
Und Carlos Cipa ist eben für solche Musik zuständig; war es schon mit seinem Debüt "The Monarch And The Viceroy", ebenfalls auf Denovali; einem so puren und innigen Klavierwerk, das ergriffen machte durch seine Intensität und begeisterte durch seine Filigranesse. Die folgende EP "Relive", die er zusammen mit Sophia Jani aufnahm, bediente eher Freunde des Experimentellen, indem darauf das Klavier in seiner Ganzheit und nicht nur beschränkt auf die Tasten als klangschaffender Körper präsentiert wurde - ein höchst faszinierendes Erlebnis.
"All Your Life You Walk" führt den Pianist wieder auf "gradlinigere" Pfade, wenn man so will, und setzt doch seine Liebe zum Weiterdenken von Strukturen, Sounds und Klangbildern fort. Das Piano ist das tragende Element, doch es bekommt Gesellschaft von ganz leichten Percussions, Harfe und Glockenspiel, geloopten Synthieflächen und instrumentalen Exklusivitäten wie dem Guitaret, einem in den 1960ern gebauten Instrument ähnlich der afrikanischen Kalimba. All diese Schmuckwerke erweitern Carlos Cipas Spektrum um schwebend-sphärische Klangbilder und erheben es über den Stand eines reinen Klavierwerkes, wenn es auch diese besonderen kleinen Melodien sind, die sich auch auf seinem zweiten Longplayer nachhaltig festsetzen. Und doch: "All Your Life You Walk" hat durch seinen Facettenreichtum insgesamt auch mehr cineastische Elemente; steht einem Soundtrack näher als das Debüt. Wir kommen nicht darum herum, inhaltlich einzusteigen.
Da darf man sich mit seiner persönlichen Identität sicherlich vom Titel der Platte und denen der Stücke leiten lassen. Eine Interpretation des Albums als Verklanglichung eines Lebensweges, auf dem man sich wie von unsichtbarer Hand gezogen und geschoben stets befindet, ergibt sich dann fast von selbst, und ist zugleich schmerzlich traurig und wunderschön. Denn das Innehalten und fassungslose Betrachten der alltäglichen Schönheit im Kleinen ("And Gently Drops The Rain") gehört genauso dazu wie der unbändige Wunsch nach Festhalten ("Step Out From Time") und das Realisieren der eigenen Vergänglichkeit und der allen Seins ("Today And It's Gone"); das eigene Wachsen an den Worten und Taten anderer ("For They Had Things To Say"), das Träumen im Verborgenen ("Secret Longing") und das manchmal unausweichliche Zurücklassen einst nahe gewesener Menschen ("A Broken Light For Every Heart"). Bis wir am Ende alle für immer verschwinden ("Nowhere To Be Found").
Man kann es so lesen, vielleicht muss man es nicht. Doch das macht die Auseinandersetzung mit der Kunst von Menschen wie Carlos Cipa so reizvoll, so vielschichtig und so belohnend. Die Stunden, die ich mit diesem Album verbracht habe, um diese Rezension schreiben zu können, waren es in jeder Hinsicht wert. Es ist ein großartiges Stück Musik, so oder so, und es ist immer wieder bewundernswert, zu spüren, wie es Musikern gelingt, einem unbekannterweise Dinge über einen selbst zu erzählen.
Ein Erlebnis, das hiermit wärmstens empfohlen sei.
Text: Kristof Beuthner