Eine niederländische Band verkauft das Knust in Hamburg aus? Müssen wir uns mal anschauen, dachten wir. Und verlebten einen überaus aufschlussreichen Abend mit Blick nach vorne in zweierlei Hinsicht.
Vor zwei Jahren standen Kensington aus Utrecht im Lineup vom Appletree Garden in Diepholz. Das war lange Zeit meine einzige Begegnung mit den Holländern, und es blieb auch lange dabei, weil ich sie mir damals nämlich gar nicht angeschaut hatte. Ein eventuelles nachhaltiges Beeindrucken fiel also aus. Und das lag nicht einmal daran, dass ich die Band beim Reinhören nicht interessant gefunden hätte, sondern der Grund war schlicht und einfach, dass ich zu spät kam. Schade, dachte ich noch. Das wäre eigentlich ein guter Auftakt mit dem ersten Bier des Wochenendes in der Hand. Ich verlor es aus den Augen, wie das so oft ist.
Klicken wir auf FastForward. Ende 2015 blickt die Band um Eloi Youssef und Casper Starreveld auf satte drei Alben zurück; das letzte, „Rivals“, erscheint von vornherein beim Major Universal. Man hat es zusammen mit Tom Lord-Alge aufgenommen, der zuvor mit The Cure, No Doubt und, hört hört, den Rolling Stones zusammen gearbeitet hat und sich selbst Grammy-Gewinner nennen darf. Ein sicheres Pferd auf dem Weg von klein nach groß. Ausverkaufte Clubs, Festivalshows bei den Großen, ein MTV Award. Das ist mehr als beachtlich für eine Band aus Holland, denn - sind wir ehrlich - der künstlerische Output, der die Grenzen unseres Nachbarlandes verlässt und derartig für Eindruck sorgt, war doch in den letzten Jahren eher überschaubar zu nennen. Blaudzun fällt mir ein; The Death Letters hatte ich persönlich auf dem Schirm, fand ich spannend, die waren aber keine große Nummer; klar mag ich Mister & Mississippi. Und sonst? Hm.
Bei Kensington ist das alles ein bisschen anders. Auch „Borders“ und „Vultures“, die beiden Vorgängeralben, hatten schon den Duft der großen weiten Popwelt geatmet. Ersteres entstand im Studio von Nick Baines, dem Keyboarder Kaiser Chiefs. Das Groninger Eurosonic/Norderslaag-Wochenende gab der Band wie so vielen anderen vor ihnen die perfekte Präsentationsebene. Dann, 2013, „Vultures“: Gemixt von Cenzo Townshend, der zuvor schon mit U2, Snow Patrol oder den Editors gearbeitet hatte. Release auch hier im November, hohes Airplay durch die Untermalung eines Werbespots für Outdoor-Wear. Viel und harte Arbeit, aber eben auch: Überall neue Fans. Die Bosse der Majors wussten, an wen sie da glaubten; das stand außer Frage.
Um ehrlich zu sein, hatte ich persönlich diesen überbordenden Erfolg von Kensington allenfalls am Rande bemerkt. Man scrollt das Programm seiner Lieblingsclubs durch, stößt plötzlich auf diesen Namen. Ein kurzer „Da war doch was!?“-Moment. Kurz mal reinhören. Ach, die? Man liest sich durch die Vita. Man staunt. Und auf einmal ist der Knust ausverkauft und die Leute prügeln sich bei Facebook um Karten. Wenn du krank geworden bist und nicht kommen kannst, bist du für eine ganze Schar von Menschen plötzlich der beliebteste Typ der Welt.
Meine Neugier war jedenfalls geweckt. Der Knust in Hamburg ist jetzt zwar kein Club in Übergröße, aber für Bands, die im weitesten Sinne dem Indie-Sektor zuzuordnen sind (was man mit Output bei Universal ja nicht mehr so richtig zu Kensington sagen dürfte) eine Plattform von ordentlichem Raum.
Das dürfte auch der Vorband aufgefallen sein, The Awesome Welles aus Dänemark, bei denen es vor der Bühne auch schon aus allen Nähten platzt. Ob das an der unermesslichen Liebe zum hierzulande noch völlig unbekannten Support-Act liegt oder an der Aussicht auf einen guten Platz bei Kensington ist völlig egal: Von der Bühne aus dürfte es ein beeindruckender Anblick gewesen sein. Uns nimmt die Band da bestimmt nicht wahr, denn wir landen punktgenau beim ersten Song und schlängeln uns ganz hinten durch die Menge. Das reicht aus um zu wissen, dass irgendwo am anderen Ende eine Bühne steht und auch, um zu erkennen, was dort so passiert, aber es reicht leider nicht aus, um ein Band zu knüpfen.
Doch Moment, das ist gar nicht negativ gemeint hier: Wo die fehlende Nähe bei anderen Bands leicht zum Nachteil gerät, sind wir im Fall von The Awesome Welles angefixt. Ein Sound irgendwo zwischen Interpol-Düsternis, Arcade Fire- und The National-Getragenheit und schottischer Jetpacks-Roughness, dazu eine sich tief in die Gehörgänge schmeichelnde Stimme und - und das ist das wichtigste - ein ausgezeichnetes Songwriting, unmittelbar, direkt, aufrüttelnd, aber zeitgleich emotional; das macht definitiv Appetit. So weit weg wir jetzt gerade auch noch sind, diese Band muss im Auge behalten werden, und nächstes Mal sind wir nahe dran. Ärgerlicherweise (für uns) erklärt uns der Sänger im Anschluss, er könne uns leider keine CD mehr verkaufen, weil man ihm das gesamte Kontingent während der vorhergehenden Shows aus den Händen gerissen hat. Keine neue Musik für den Nachhauseweg also, aber ein klares Indiz dafür, wie beeindruckend diese Jungs wirken. Nach einer halben Stunde ist der Support-Slot schon vorbei. Schade, da hätten wir gerne mehr gehört.
Bei Kensington ist es noch voller. Wahnsinnig viele Holländer sind im Publikum. Das riecht nach Heimspiel. Wir probieren es mal und schleichen nach vorne. Treten vielen Leuten auf die Füße, müssen uns mehrmals um die eigene Achse drehen, werden mal freundlich weiter geschoben und mal böse angeblitzt und landen schließlich an einem ziemlich guten Fleck rechts vor der Bühne. So weit am Rand, dass man sowohl Bühne als auch Menschen gut im Blick hat. Die Band betritt unter Kunstnebel und euphorischem Jubel ihr Territorium und lässt schon mit der ersten Nummer keinen Zweifel daran, was sie heute vorhat: Die große Rockshow. Perfekt drapiert in die Schnittstelle zwischen Indie-Understatement und großer Pop-Geste. Das geht mit dem Publikum, das dahingehend gut gemischt ist, auch ausgezeichnet. Die Leute sind von vornherein dabei, recken die Fäuste in den Himmel, wenn sie dazu aufgefordert werden, und sind erstaunlich textsicher, fast durch die Bank.
Schnell wird klar, was all diesen Menschen so gefällt an dieser Band. Die Stücke, übrigens von allen drei Alben gut durchmischt, haben einen unwiderstehlichen Pop-Appeal gemeinsam. Bruce Springsteen-Exhaltiertheit ist genauso dabei wie satte Riffs und Bastille-Chöre; der Sound ist gut, die Stimmen von Eloi Youssef und Casper Starreveld, die sich den Part als Frontmann fast ausgeglichen teilen, klingen gut ausgesteuert und präsent. Balladen oder sonstige Momente zum Innehalten gibt es keine; die Show hat eine ungeheure Energie von Anfang bis zum Ende. Das passt zur Aufbruchsstimmung in den Songs, es geht um weite Straßen, bei denen man nicht weiß, was am Ende wartet; um ein Leben, das frei ist und offen, auch wenn es Haken schlägt und einen mal zurückwirft. Darauf eine Faust in den Himmel.
Aber. Die Hymnenhaftigkeit ihrer Songs ist für Kensington Fluch und Segen zugleich. Natürlich ist der Mitsing- und Mitmachfaktor hoch, sowieso für die, die alles kennen. Doch wenn Casper Starreveld auf den Monitor steigt und alle überschwänglich auffordert, doch bitte Lärm zu machen, die Hände in die Luft zu heben oder unisono die Fäuste zu ballen; wenn Eloi Youssef erst seine Landsleute und dann „die deutschen“ Gäste abwechselnd Lärm machen lässt und vor allem dann, wenn die beiden den nächsten ausladenden „ohohooo“-Chorus gemeinsam mit ihrem Publikum anstimmen, schleicht sich das böse Wort Stadionrock in unsere Gedanken. Der Grat ist schmal, manchmal ist weniger mehr, klar, doch Kensington geben sich nicht mit wenig zufrieden. Diese Band beherrscht ihr Metier und ihr Handwerk und weiß ganz genau wo sie steht, das wird klar, auch wenn nichts aufgesagt wirkt und die Jungs auf der Bühne sehr freundschaftlich miteinander harmonieren, doch irgendwie wirkt alles etwas too much.
Das macht sich auch bemerkbar, je länger das Konzert dauert: Wenig Melodien bleiben im Gedächtnis, vieles hört sich ähnlich an, zu häufig ähneln sich die Strukturen von zackigen Strophen und überbordendem Refrain. Diese Band ist jetzt schon mehr Pop als Indierock; kleiner als heute - auch wenn ihr das Spaß macht - soll es in Zukunft nicht mehr werden. Dass sie auch anders kann, beweist sie auf mitreißende Weise bei der ersten Zugabe, einer lupenreinen Bluesrock-Nummer mit etlichen Tempowechseln, unbändiger Spielfreude und astreinem Style. Da wirken Kensington plötzlich wieder wie eine Band, die zeigt, was sie auch musikalisch drauf hat und vielleicht eigentlich will; das Stück passt stilistisch im Grunde nicht wirklich in die Setlist und ist für uns doch der klare Höhepunkt der Show. Das abschließende „Streets“ ist es sicherlich für die meisten anderen, da wird nochmal alles aufgetürmt und Zeile für Zeile mitgeschrien, und dann ist Schluss.
Fluch und Segen zugleich ist diese Hymnenhaftigkeit, habe ich geschrieben. Wenn man sich das so anschaut, ist es für Kensington eher Segen und wird es wohl auch in Zukunft sein. Man kann heute problemlos daran glauben, dass diese Band über kurz oder lang tatsächlich Stadien füllen wird. Als sie sich verabschiedet, verabschiedet sie sich praktisch ins Studio; es sind neue Ideen da, nur wenige Shows werde es im kommenden Jahr geben, dafür in Bälde ein neues Album. Tosender Applaus, Jubel, Vorfreude. Was die Band für Liebhaber von Ecken und Kanten womöglich bald noch weniger interessant machen wird, dürfte ihr Türen und Tore in den großen Rockzirkus noch weiter aufschließen. Kensington, daran besteht heute keinen Zweifel, sind mit dieser Tour den letzten Schritt vor groß gegangen. Sky is the limit. Größer, voller, breiter wird es wohl werden. Die Band weiß, was sie kann und wo sie steht. Wo ist da der Fluch? Wenn man es recht bedenkt, dürfte man wenig davon finden an diesem Abend.
Doch für uns ist es bezeichnend, dass es ein anderes Bild ist, das uns heute im Gedächtnis bleibt: Die kleine Tochter eines der Bandmitglieder, die mit ihrer Mama auf der Treppe steht, die auf der linken Knustseite zur Empore führt und das ganze Konzert über voller Stolz auf ihren Papa und voller Freude, dass sie heute hier ist, in die Hände klatscht, strahlt wie ein Honigkuchenpferd und jeden Song Zeile für Zeile mitsingt. In diesem Bild liegt so viel Liebe und Hingabe, dass es mehr berührt als jeder Ton, den Kensington tatsächlich von der Bühne zu uns herunterschicken. Manchmal sind es eben doch eher die kleinen Dinge an einem Abend wie diesem: Eine Weisheit, die die Musik von Kensington inzwischen deutlich weniger verkörpert als dieses kleine Mädchen in ihrem weißen T-Shirt.
So bleibt der Blick zurück auf ein Konzert, dessen Vorband uns deutlich mehr beeindruckt hat. Das gibt es dann und wann, nicht häufig, umso aufregender ist es. Am nächsten Tag werden Youtube-Kanäle und Spotify-Playlisten durchforstet und das nach The Awesome Welles selbst benannte Debüt läuft in Dauerschleife. Von diesen Dänen möchten wir mehr hören: Genau diese Direktheit, diese Roughness und dieser zupackende Charme sind es, die wir bei Kensington haben vermissen müssen. Der Sänger erzählt mir nach der Show, dass die Band via Sony Music veröffentlicht. Auch hier ist der Grundstein für eine große Karriere also durchaus da. Wie die Band in den nächsten Monaten und vielleicht Jahren positioniert wird, dürfte spannend bleiben. Ob sie sich auch verliert im Pop und seinen Strukturen. Oder ob sie sich sperrt und ein Geheimtipp bleiben muss.
Kensington haben das Game verstanden und für ihren Erfolg hart gearbeitet, das steht außer Frage. Ob wir Eloi Youssef und Casper Starreveld wiedersehen wollen, überlegen wir uns nochmal. Fakt ist: Es wird nicht so sein wie beim Appletree Garden 2014. Als eine der ersten Bands des Wochenendes. Mit dem ersten Bier in der Hand.
Text: Kristof Beuthner