Eine Ode an die magische Stunde zwischen Tag und Nacht: Der Mailänder Pianist Federico Albanese gibt die Premiere auf dem frischen Klassik-Label „Neue Meister“.
„The Blue Hour“, die blaue Stunde. Kennt ihr, oder? Das ist die Stunde, in der sich der Tag mit endgültiger Bestimmtheit zur Nacht transformiert. Es ist noch so hell, dass man im Park die Bäume sehen kann, aber schon so dunkel, dass die vom Tageslicht hervorgehobenen Fein- und Exaktheiten langsam verschwimmen. Alles um uns herum wird nach und nach zu einer schwarzen undeutlichen Facette, während der Himmel in tiefem Blau erstrahlt. Lichter in der Stadt bilden zusammen mit diesem Blau eine Farbpalette statt den Kontrast zum Schwarz der kommenden Stunden. Man steckt noch im Tag und freut sich auf die Nacht. Je nach Jahreszeit kann sie früher oder später stattfinden, diese blaue Stunde. Wir sehen sie wahlweise vom Bürofenster, vom Lieblingssessel, vom Garten aus; haben unsere Energie für den Tag entweder bereits aufgebraucht oder stecken voller Tatendrang. Kurzum: Eine surreale Entität schwebt da über uns wie der Eingang in eine Zwischenwelt, in der sich Schönheit, Lethargie, Frieden und Aufbruchsstimmung miteinander paaren. Wer sich diesem Gefühl mal bewusst hingegeben hat, kann nicht umhin, es als besonders zu beschreiben.
Federico Albanese, der bereits auf seinem Debüt „The Houseboat & The Moon“ bei Denovali ein ziemlich beeindruckendes Gespür für Zwischenwelten beweisen hat, ist sicherlich der richtige, um dieses Gefühl in Musik zu transformieren. Das Album war mein meistgespieltes vor zwei Jahren; passte mit seiner Stimmung zwischen Traumwandel, Hingabe und Rastlosigkeit wie angegossen in meine Nächte auf Auto- und in U-Bahnen, in Zelten und Betten. Mit Schlaf, ohne Schlaf, mit Gedanken, ohne Gedanken. Schon hier deutete der Mailänder an, dass er die Grenzen von contemporary Klaviermusik auszuloten vermag; ließ Streicher, elektronische Soundscapes und auf „Queen & Wonder“ sogar minimaltechnoide Beats mit seinem Instrument verschmelzen.
Für „The Blue Hour“ hat er nun die Seiten gewechselt; er ist die erste Veröffentlichung auf dem Edel-Spartenlabel „Neue Meister“, und dass man ihn dafür auserkoren hat, zeigt, wie viel Eindruck sein Debüt hinterlassen hat. „The Blue Hour“ geht nun also den Schritt zurück vom Nachtgefühl zum Zwischengefühl und klingt folgerichtig ein Stück weniger konkret als sein Vorgänger. Eingängiges wie „Disclosed“ oder „Carousel“ findet sich jetzt nur noch selten. Die malerischen Klavierpassagen sind freilich noch da, aber sie werden deutlich mehr ausgeschmückt. Schon das eröffnende „Nel Buio“ klingt mit seiner elektroiden Düsternis weit weniger intim; es ist eben das surreale und das ungewisse Element mit Beginn der blauen Stunde, das wir empfinden, wenn der Tag sich neigt und die Nacht entweder viel oder gar nichts verspricht, wie eine nicht greifbare Einsam- oder Nachdenklichkeit, die wartet, wenn wir der Ruhelosigkeit nicht nachgeben. Ein kurzes Innehalten. Federico Albanese führt uns durch sämtliche Stimmungen und Prämissen, lässt Ambient-Flächen mäandern und Pianotupfer streicheln, imaginäre Lichter mal im Schnelldurchlauf und mal in Zeitlupe an uns vorbeiziehen. Er malt Bilder von Nachhausewegen, von Fensteraussichten, von Einsam-, Zweisam- und Mehrsamkeit. Und das wichtigste ist: Er hält dabei genau den richtigen Ton zwischen Melancholie und Losgelöstheit mit ungeheurer Intensität.
Man versteht schnell, warum dieser Mann einer der derzeit wohl bedeutsamsten Contemporary Artists ist: Seine Musik entbehrt jeder bloßen Schönspielerei und jedem auf sich selbst reduzierten spielfreudigem Experimentalismus. Seine Stücke sind kleine Geschichten, sie haben mit uns zu tun und auch mit euch, je nachdem was wir hineinfühlen. So wird „The Blue Hour“ zu einem treuen Freund, einer stillen Instanz, die uns still von der einen in die andere Welt hinübergleiten lässt und ein Gefühl der Verstandenheit auslöst.