Artikel 28.09.2025

Geht auf Konzerte! Liebt die Musik! - Nillson beim Reeperbahn Festival 2025

St. Pauli ruft und alle kommen: Was man beim Fußball alle zwei Wochen erlebt, ist für Musikfans nur einmal im Jahr so richtig Programm. Dann ist nämlich Reeperbahn Festival, und die Synapsen werden mit rund 400 Konzerten rund um Deutschlands bekannteste Straße so richtig schön angefixt. Jedes Jahr wieder ein Abenteuer, und doch fühlt es sich jedes Jahr wieder neu an. Kein Wunder: Nirgendwo sonst entdeckt man in so kurzer Zeit so viele vielversprechende Newcomer, muss ein so präzises Zeitmanagement beim Planen von Konzerten beweisen und fühlt sich im Nachhinein so belohnt für eine richtig gute Zeit.

Vom Spirit, Menschen wieder zu treffen, die man ansonsten ein ganzes Jahr nicht sieht, können einem wahrscheinlich Besucher:innen von jedem xbeliebigen Open Air im ganzen Land berichten. So überrascht es nicht, dass die ersten Freunde einem schon in der Bändchenschlange beim Heiligengeistfeld um den Hals fallen. Aber das hier ist kein Familien-, das hier ist ein Entdeckertreffen. Und so gibt’s nach dem ersten Drücker dann gleich den ersten fachlichen Austausch: Was steht heute an? Habe ich was übersehen? Hast du einen guten Tipp für mich?

Mein alljährliches Ritual zahlt sich mal wieder aus. Sobald der Timetable steht ziehe ich mich mit einem großen Glas Rotwein und Kopfhörern zurück und versuche, einen Überblick über Bands und Künstler:innen zu bekommen; es sind an die 200. Nebenbei wird mitgetippt (die App dient dann während des Festivals nur dem Komfort), fett markiert, abgewägt. Dafür bin ich gut vorbereitet und kann jeder Person die ich treffe versiert meine Pläne A, B und C präsentieren. Selbstverständlich, dass man dabei direkt auf dem Heiligengeistfeld hängen bleibt. Das Festival Village ist ein guter Ort zum Ankommen. Dieses Jahr noch mehr, denn die Veranstaltenden haben gut erkannt, dass die Idee, das Heiligengeistfeld zum Meeting Point zu machen, nicht ganz aufgeht wenn der Spielbudenplatz einfach viel zentraler liegt. Darum ist das Festival Village räumlich deutlich reduziert worden; es gibt nun einen Rundlauf, den die vielen Stände der Flatstock Poster Ausstellung säumen, und in der Mitte liegt die Fritz Kola Bühne, auf der sich in halbstündigen Slots über die Tage verteilt verschiedene Bands und Artists for free präsentieren. Auch die kleine MoPo-Bühne und die große, aus roten Containern errichtete Amazon Music Stage befinden sich hier. Das Village wirkt deutlich einladender und geschlossener, man kommt sich nicht mehr so verlaufen vor – klares Upgrade durch Downgrade!

Der Klassiker wäre gewesen, durch nette Talks die erste Band zu verpassen, aber ich schaffe es rechtzeitig ins neue Molotow, das nun mitten auf der Reeperbahn zu finden ist – der Club ist deutlich vergrößert, mit der Top10-Bar gibt es auch eine zweite Stage, nur der Backyard wird natürlich schmerzlich vermisst. Sei’s drum: The Pill spielen hier mein Opening, mit äußerst mitreißendem Riot Grrrl-Punk, „zwischen Wet Leg und The Hives“, fällt mir während der Show ein. Natürlich gibt es da nicht viel Abwechselung, dafür aber 45 Minuten lang stramm Druck. Unbedingt merkenswert. Im Bahnhof Pauli schaffe ich es anschließend zu h3nce, einem noch sehr jungen DIY-Künstler, der College Rock mit 80s-Postpunk-Ästhetik vermischt. Das funktioniert vor allem live überraschend gut, die Songs gehen ins Ohr, die Präsenz stimmt. Den sehen wir bestimmt wieder. Zum Mittwochs-Abschluss wartet im Resonanzraum mit den Belgiern von Omar Dahl ein ziemlich faszinierender Sound zwischen Electronica, orientalischen Klängen und Jazz. Die Erwartungen einer Band in der Schnittstelle zwischen Altin Gün und Khruangbin werden nicht erfüllt, was aber sogar gut so ist, denn das hier schlägt eine ganz andere Richtung ein, ist deutlich clubtauglicher und sollte nächsten Sommer auf dem ein oder anderen mittelgroßen Festival die Nächte verschönern. Nicht ganz so warm werde ich mit Farhot, der sich u.a. als Producer für so einen illustren Kreis an Bands und Musiker:innen wie Nneka, Haftbefehl oder den Fanta 4 einen Namen gemacht hat. Das hier geht deutlich weiter weg von Hiphop und Soul und weit mehr in Richtung Jazz, und das ist auch völlig cool und extrem versiert, allerdings nichts was für mich an Tag 1 noch einen draufsetzt. Klarer Fall von Früh-Überreizung.

Am Donnerstag beginnen die Showcases so richtig, und hier steht unter anderem das Klubhaus St. Pauli im Fokus, das mit dem Sommersalon, dem UWE, dem Häkken, dem Schmidtchen und dem Bahnhof Pauli gleich fünf Clubs stellt, die die Wahl zur Qual machen. Und weil der Weg nach Hamburg wegen des Verkehrs länger dauert als geplant, wird der eigentlich heiß erwartete Postpunk von Slate direkt mal verpasst. Keine Chance auf Reinkommen mehr; wer zu spät kommt, den bestraft die geringe Kapazität der kleinen Läden. Den Kickstarter machen also The Sherlocks aus Sheffield auf der Open-Air-Stage Spielbude XL mit Indie Rock wie man ihn aus Britannien spätestens seit der Class of 2005 auf dem Radar hat, starken Melodien und reichlich attitude. Im Anschluss wird noch eine Gibson Les Paul verlost, die ich leider nicht gewinne. Also mache ich mich – mit kleinem Umweg über mein Auto, denn der Himmel zieht sich zu und ich brauche einen Regenschirm – auf zum ersten mir ganz wichtigen Termin des Tages.

Donnerstags wird nämlich vom Höme-Magazin traditionell der Helga!-Award verliehen. Die Show findet dieses Jahr erstmals im Knust statt und bekommt sogar eine Live-Übertragung vom Club in die Bar spendiert, denn durch die Bestuhlung ist vor der Bühne deutlich weniger Platz als in den letzten Jahren im Panel- oder Spiegelzelt. Statt bekannter Programmpunkte zur Auflockerung geht es dieses Jahr straight von Kategorie zu Kategorie; Ludwig Henze alias Laser Ludi und Kira Henze führen durch den Spätnachmittag. Schön mitzuerleben ist wie in jedem Jahr die Wiedersehensfreude bei den Vertreter:innen der vielen Festivals, nominiert oder nicht nominiert, und der Eindruck einer Branche, die gemeinschaftlich an einem Strang zieht, voneinander lernen will und ziemlich happy ist, Sommer für Sommer Sehnsuchtsorte zu schaffen, sorgt für Sonne im Herzen am Ende eines äußerst vollen Festivalsommers. Dabei gibt es in diesem Jahr deutlich mehr Appelle an die Szene: Zusammenschluss gegen den Rechtsruck, weitere Schritte zu noch mehr Nachhaltigkeit und ein noch stärkerer Fokus auf FLINTA-Acts müssen auf der to do-Liste noch deutlich dicker unterstrichen werden. Die Gewinner der von einer Fachjury bewerteten Kategorien sind das Summertime Festival für das beste Booking, das Gravity Festival für die „Grünste Wiese“, das EselRock für die „Gemischteste Tüte“, das MSNT Festival für die unerschrockenste Haltung und das Ab geht die Lutzi! für das „größte Glück für den kleinsten Geldbeutel“. Den Publikumspreis für das beste Festival geht ein weiteres Mal an das Open Flair, und ich sage das, was ich jedes Mal sage wenn das passiert: Ich muss da wohl unbedingt mal hin!

Statt mich, mal wieder viel zu spät dran, in die sicher riesige Schlange beim Molotow für Man/Woman/Chainsaw einzureihen, schaue ich auf der nächsten Reception vorbei. Die Messe Future For Festivals gibt am Technobus in der Taubenstraße zehn Festivals innerhalb von fünf Stunden die Gelegenheit, sich in halbstündigen Receptions zu präsentieren. Während es im Bus Freigetränke gibt und verschiedene DJs auflegen, ist mir das ganze aber zu wenig unterschiedlich individuell geprägt. Was bleibt sind drei verschiedene neue Festivalbändchen (mit QR-Code, der zum Einlass für die Messe berechtigt) und ein paar richtige Kreuze auf dem Bingo-Zettel vom Skandalös Festival, die ihre DJ-Zeit nutzen um Bands und Küstler:innen ihrer vergangenen Lineups via Bingospaß vorzustellen – das ist zumindest eine coole Idee.

Musikalisch geht heute nicht mehr viel. Irgendwie schaffe ich es in den völlig überfüllten Bahnhof Pauli zum sehr kühlen Wave-Punk von Witch Post, aber die Menschen stehen bis in den Vorraum und ich kann auf die Band selbst nur einen flüchtigen Blick erhaschen. Ein ganz wundervolles Konzert spielen die liebgewonnenen Soft Loft im Mojo, und da bin ich mal früh genug für einen richtig guten Platz auf der Empore. Die herzerwärmenden Melodien, der zu jedem Zeitpunkt absolut stilsichere Folk-Indie-Pop, die zarte Melancholie und die einprägsame Stimme von Jorina Stamm, dazu noch eine ganze Reihe an Hits wie „Paper Plane“ oder „Rose Colored“ – Soft Loft sind die Indie Darlings der Saison und sie rechtfertigen diesen Status mit jeder Sekunde ihrer Show. Zum Abschluss wandere ich noch ins Angie’s im Schmidts Tivoli zu Gardens, die sehr einnehmend zwischen Roughness und Filigranesse changieren. „Zwischen kalifornischen Hippies und dem WG-Flur in Wien“, heißt es in der Beschreibung, und das ist genau das Bild, das sich einem vor dem inneren Auge eröffnet. Feiner Indie-Folk trifft aufregenden Garage Rock und zum Abschluss gibt’s Rotwein aus dem Senfglas. Stark!

Während ich mich am Mittwoch und am Donnerstag noch treiben lassen mochte, ist die Taktung am Freitag ungleich höher, als ginge das Reeperbahn Festival heute erst so richtig los. Und im Häkken gibt es mit Dramatist gleich mal ein erstes großes Tageshighlight. Ich kenne einen Teil der Bremer Band noch aus Zeiten als sie Stun hießen und erwarte nur gutes, und das bekomme ich auch: 30 Minuten absolut präzise gespielten oldschool Post Hardcore, der Platz für Melodien lässt und mich mit seiner Wucht fast umwirft. Das macht riesige Vorfreude auf das 2026 erscheinende Debütalbum. Dann mal wieder ab in die Riesenschlange, obwohl ich nur zwei Türen weiter gehen will, aber die Goth-Wave-Helden von Twin Tribes füllen auch mit ihrem halbstündigen Showcase-Gig den Bahnhof Pauli bis auf die Straße. Als ich es reinschaffe, ist das Konzert zu einem Drittel vorbei, aber die übrigen 20 Minuten ziehen mich mit düsteren Sythnies, halligen Drums und mondän-abgedunkelten Vocals so in ihren Bann dass ich die erste Vinyl des Tages mitnehmen muss. Für die folgenden The Dark bleibe ich einfach gleich in der Location, da gibt es tonnenschweren Metalcore auf die Ohren, außerdem einen volltätowierten Muskelberg-Frontmann mit Kajal und Geltolle im Netzhemd am Mic. Irgendwie fancy, irgendwie stark. Da bietet Marlo Grosshardt im Docks zu all dem Lärm das komplette Kontrastprogramm, aber es ist wirklich jedes Mal wieder eine Freude, diesen Typen da stehen zu sehen und ihm so von Herzen zu gönnen dass er es geschafft hat, ausverkaufte Touren spielt und immer mehr Leute mit seiner ganz klaren und sehr guten politischen und gesellschaftlichen Haltung und nebenbei ganz wunderbaren kleinen Song gewordenen Geschichten um sich sammelt. Und an der Posaune wird er auch immer besser.

Nach dem Genuss eines australischen Smash Burgers auf dem Spielbudenplatz – göttlich, sage ich euch – mache ich mich auf ins Uebel & Gefährlich zu The Haunted Youth, die ich auf dem Reeperbahn Festival vor ein paar Jahren für mich entdeckt habe und die längst zu einem der renommiertesten belgischen Indie-Acts geworden sind. Kein Wunder: Es ist ein wundervolles Konzert zwischen Indie- und Postrock, melancholisch-nachdenkliche Passagen münden in ohrenbetäubenden Bombast, es ist ein Rausch. Kann danach noch was kommen? Oh ja. Denn in der St. Pauli-Kirche (perfekt!) sorgt The Slow Show-Frontmann Rob Goodwin mit seinem neuen Solo-Material für den absolut perfekten Tagesabschluss. Wobei solo gar nicht stimmt, begleitet wird er immerhin von niemand anderem als dem maskierten Pianisten Lambert am Flügel. Die Songs der an diesem Tag erschienenen Platte „Peekaboo“ sind, wie man es erwarten durfte, kleine, introspektive, durch und durch rührende Epen, und die klangliche Reduktion des Instrumentariums steht Rob Goodwins unvergleichlichem Bariton wirklich ausgezeichnet. Es wird die zweite Vinyl des Tages.

Der Samstag auf dem Reeperbahn Festival ist irgendwie immer so ein on-top-Tag: Eigentlich tun die Füße schon weh, man hat jeden getroffen den man treffen wollte, man ist ein bisschen überreizt und hat viel zu wenig geschlafen. Aber heute scheint die Sonne und das weckt nochmal alle Lebensgeister für die letzte Runde. Kleiner Insider-Ritual-Tipp: Ein Curry im Maharaja in der Detlev-Bremer-Straße, Naan und Mango Lassi dazu, und die Lebensgeister haben die perfekte Grundlage. Den Soundtrack zu dieser Stimmung liefern GRIMA, die mit waberndem, sonnengetränktem New Wave und druckvollem Postpunk zu spanischen Lyrics einfach wie gemalt sind in diesen vielleicht letzten Sommertag des Jahres. Für solche spontanen Entdeckungen liebe ich die Fritz Kola-Bühne sehr. Und dann ist mal wieder treiben lassen Phase. Es folgen ein paar ultrakurze Gigs am N-Joy-Reeperbus, der wie jedes Jahr auf dem Spielbudenplatz steht, das Highlight ist die Acoustic Show von (mal wieder) Soft Loft. Kurzer Rückweg ins Village und Rap von Juno030, dann der erste Club für heute und direkt das überraschende Tageshighlight. Far Caspian aus Leeds spielen Indie Pop – würde man sagen, wenn man sie nur von Platte kennen würde, wo diese Band weit filigraner, aber eben auch deutlich weniger mächtig klingt. Live wächst der Sound des Sextetts um eine betörende Postrock-Wall of Sound an, in der man sich verlieren mag, und plötzlich steckt man in Erinnerungen an die frühen Jimmy Eat World und die frühen Death Cab For Cutie und diese Postrock-Darlings, Caspian ohne Far heißen. Dazu ist die Band noch absolut sympathisch, das macht hier alles wirklich enorm viel Freude.

Mit kurzem Zwischenstopp auf einen Crémant bei Blumen & Feinkost Schnalke (unbedingt mal hingehen, der Laden ist sehr stark) quetschen wir uns in die millimetergenau gefüllte Pooca Bar zu Drei Säcke Bauschutt, einer Hamburger Band, die zwischen Sarkasmus und Ironie einwandfreien Mittelfinger-Punk runterdrischt, gegen jeden und alles, wenn es unterdrückt, klein macht, Menschen reduziert und im Herzen schlecht ist. Das geht sehr sehr gut klar. Und dann, for something completely different, bringt Killowen im Mojo das Wochenende nach Hause: mit einem Rap Sound, wie er so halt nur von der Insel kommt; ein bisschen 2step, ein Schuss UK-Garage, ganz wenig Jazz und ein tiefenentspannter, gleichzeitig aber sehr treibender Flow, und die komplette Batcave eskaliert. Diese halbe Stunde war definitiv zu kurz.

Fazit? Müde, zerlatscht, aber glücklich. So sieht halt ein Post-RBF-Sonntag aus, und einen Tag später wird der Alltag schon wieder ganz andere Sachen mit einem machen. Viel gelaufen, viel entdeckt, viel geredet, aber vor allem: Vier Tage lang eindrucksvolle Beweise dafür gesammelt, warum man Musik liebt, warum man Konzerte liebt, warum man „Geht auf Konzerte“ und „Hört Musik“ in die Welt schreien will, denn das macht glücklich, inspiriert, erstaunt, langweilt natürlich auch mal. Es erweitert die Sinne und verändert Leben, es schafft die gute Form von Gemeinschaft, und die brauchen wir so dringend. Das ist was wundervolles.

Die Festival-Saison ist damit nun vorbei – und ich fühle mich jetzt schon unglaublich ready für die nächste. Reeperbahn Festival, Hamburg, St. Pauli – see you next year!

 

Text und Foto: Kristof Beuthner