Artikel 28.08.2012

Hochgenuss mit Träne im Knopfloch: Nillson beim BootBooHook 2012

Das BootBooHook in Hannover, gehostet vom feinen Hamburger Tapete-Label, gehört zur Allianz der guten kleinen bis halbgroßen Festivals in Deutschland. Nun hat es seinen fünften Geburtstag gefeiert, was ja schon ein kleines Jubiläum ist. Die Gäste waren erlesen, die Besucher kamen in Scharen und es war ein rundum gelungenes Wochenende - doch ohne Träne im Knopfloch fahren wir nicht nach Hause.

Es ist ja dieser ewige Teufelskreis bei guten Dingen. Wenn sie so gut sind, dass alle davon Wind bekommen sollen, dann müssen sie mehr Menschen zugänglich gemacht werden. Wachsen. Wenn es weiterhin Leute gibt, die an dem, wie die Dinge sind, Kritik üben, die so laut erklingt, dass Gegenwehr kaum möglich ist, verändern sich diese Dinge. Projizieren wir mal diese abstrakte Einleitung auf das BootBooHook, dessen guter Ruf ihm ja längst über die niedersächsischen und hamburgischen Landesgrenzen voraus eilt. Nein: Die Musik war auch in diesem Jahr wieder über jeden Zweifel erhaben. Das Lineup 2011 war schon magisch gewesen; es wurde mindestens adäquat bei der neuen Auflage. Die Crux lag auch nicht beim fehlenden roten Hot-Dog-Wagen, der plötzlich ein Crêpe-Wagen war - auch, wenn dieser Verlust schwer wog. Aber weil die nächtliche Lautstärke anscheinend mehreren Nachbarn im Hannoveraner Stadtteil Linden nach vier Ausgaben BootBooHook ein Dorn im Auge war und man sich zudem auch gerne geographisch ausweiten wollte, erlebte das Festival einen Umzug: vom malerischen Gelände im Lindener Bürgerpark, gesäumt von Bäumen und mit dem Kulturzentrum Faust als einer Art verwunschener Ruine im Zentrum, hinaus auf eine Wiese, namentlich Kronsbergpark, angrenzend an die Expo-Plaza.

Was dafür sorgt, dass das BootBooHook einen großen Plusfaktor eingebüßt hat: Seine einzigartige Atmosphäre. Letztes Jahr noch stolperte man durch enge Gassen, vorbei an Kiosken und einem Spielplatz, bis sich - man rieb sich verwundert die Augen - vor einem das satte Grün des Lindener Bürgerparks auftat. Man fand immer einen neuen Winkel zum Entdecken, konnte im Biergarten der Musik lauschen und hatte den ganzen Tag über die Qual der Wahl zwischen Open-Air-Festival draußen und Clubkonzert in der Faust und im Mephisto. Man hatte ein Festival in der Stadt und gleichzeitig im Grünen; im selben Moment urban und naturbelassen. Das BootBooHook-Festival 2012 hat nichts mehr davon. Es findet statt auf einem unebenen, mit Krisselgras bewucherten Acker im Irgendwo, wie man ihn bei allen anderen Festivals auch findet. Auf dem Weg zur Hauptbühne grüßen links drei einsame Bäume und rechts Ikea. Letztere verkaufen jetzt übrigens auch die Hot Dogs, und auch der Inbegriff der Festivalgleichschaltung, Marios Pizza, ist da.

Statt Konzerten in Clubatmosphäre, die seltene Momente der Ruhe in ein ansonsten so belebtes und lautes Festivalwochenende bringen konnten - nach wie vor bekommt man in Erinnerung an die Konzerte von The Grand Opening oder Moritz Krämer im vergangenen Jahr Gändehaut - müssen wir uns jetzt die "kleineren" Acts in einem großen Fest- und einem kleineren Zirkuszelt anschauen. Beide sind natürlich nicht schallisoliert, so dass zeitliche Überschneidungen mit den anderen Stages schlichtweg ärgerlich sind und selbst, wenn sich nichts überschneidet, die monotone Soundcheck-Bassdrum von der Hauptbühne elegische Momente vollkommen unmöglich macht. Den dänischen Striving Vines geht so ihr sphärisch-schwebendes Intro genauso verloren wie den Hannoveraner Lokalhelden, den großartigen Frames, deren atmosphärischer Postrock Zeit zur Entfaltung braucht, jegliche Chance auf Spannungsaufbau.

Auch die Bühnenbelegung der Bands verwundert zuweilen. Man hat vor der großen Hauptbühne in der Regel viel, sehr viel Platz. Der große Niels Frevert wirkt am Sonntag darauf genauso verloren wie man später bei Dear Reader im Festzelt mit den Menschenmassen zu kämpfen hat, die das Zelt bis auf den letzten Platz ausfüllen und wo sich Zuschauer sogar bis weit dahinter versammeln müssen wenn sie etwas sehen wollen. Ähnlich sieht es auch bei den Anfang des Jahres aufgelösten Superpunk aus, die sich für ein einziges Konzert wieder vereinigt haben und bei deren Zeltkonzert ans Luftholen nicht zu denken ist. Hätten die nicht auf der großen Bühne vielleicht einen würdigeren Rahmen für dieses einmalige Comeback bekommen können - oder ist es die Illusion eines stickigen Clubkonzerts, das zu spielen doch immer eine Riesenstärke der Hamburger war, was die Veranstalter zu ihrer Entscheidung bewog? Es wirft vieles Fragen auf in diesem Jahr.

Und weil man all das entweder nicht geahnt hat oder im Vorfeld nicht wahrhaben wollte, fällt dabei erst einmal etwas weniger ins Gewicht, wie viele große Konzerte man auch wieder hat sehen können an diesem Wochenende. Nein, das andere große Plus des Festivals, das einer enormen Stilsicherheit und Klasse in punkto Booking und Bandaufgebot, funktioniert nach wie vor einwandfrei. Da sind all die vielen wundervollen labeleigenen Bands, da sind die immer gern gesehenen Klassiker, die internationalen Emporkömmlinge und die exklusiven Superacts, die man sonst nicht an jeder Straßenecke bekommt. Nein - da ist jedes Klagen nicht angebracht. Genauso wenig wie bei den im letzten Jahr schon liebgewonnenen Introductions durch den Meister des großen Worts Francesco Wilking, immer mit der ihm so eigenen Humorseligkeit und selbst nach den nicht so guten Witzen noch derart ursympathisch in sich hinein lächelnd, dass man sich fast schon wünscht, er würde selbst gleich auftreten.


Das übernehmen andere für ihn. Die brillanten Locas In Love zum Beispiel, die am Freitag das Festival mit ihren charmanten Popsongs und ihren gestochen scharfen, in Text gegossenen Beobachtungen von Schein, Sein, Leben und Liebe eröffnen. Es fliegen ihnen die Herzen im Sturm zu. Da wären To Rococo Rot mit ihren mäandernden Klangcollagen, die den am frühen Abend immer zahlreicher werdenden Gästen warme Schauer über den Rücken laufen lassen. Die Avantgarde-Krautrocker von Camera erreichen im Zelt ein erstaunlich großes Publikum, was wegen der Schrägness verwundert, ob der großen Qualität aber nur konsequent ist. Man feiert das, weil es feiernswert ist, auch oder gerade weil es so schön an den Hörgewohnheiten vorbeischrammt. Eher blass bleiben die Japandroids auf der großen Bühne; ihr auf E-Gitarre und Drums reduzierter Rock ist energetisch und mitreißend, aber irgendwie nur drei Songs lang innovativ.

Der Auftritt von Palais Schaumburg gerät zu einer höchst faszinierenden Zeitreise in die spannende Seite der deutschsprachigen Musik-1980er. Die Band kriegt sogar die Jungen, aber um sie nach all der konzertlosen Zeit wieder spielen zu sehen, haben auch einige deutlich erkennbare Altfans ihren Weg zum Festival gefunden. Das ist großes Kino und ich wäre damals gern dabei gewesen. Es folgt der große bunte Zirkus von Of Montreal, immerhin deutschlandexklusiv und definitiv schillernd; im Publikum steht der einen Hälfte der Mund vor Staunen, der anderen vor Begeisterung offen. Der Freitag schließt ab mit Tocotronic, die gut sind wie immer und nach wie vor einfach keine neuen Songs spielen um ihr bald erscheinendes Album anzukündigen. Dafür haben sie auch wieder eine stattliche Anzahl alter Hits im Gepäck, und das kommt natürlich fantastisch.

Genau wie Jens Friebe am Samstag, der seine Hits auf Keyboard und Drums reduziert spielt und einfach ein genau so großartiger Texter wie Entertainer ist. Ein Hoch auf die Liebe, ein noch größeres auf die unerfüllte. Und diese Weisheit hinter all dem Kitsch - es ist einmal mehr ein Vergnügen. Tarwater wären sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt, gerne auch auf der allerkleinsten Bühne (oder auf dem alten Gelände im Dunkeln), besser aufgehoben gewesen. Ihrer sehr flächigen und sphärischen, aber auch anspruchsvollen und schleppenden Version von Elektropop fällt es am sonnigen Nachmittag schwer, zu folgen. Die Hannoveraner Frames haben zwar, wie eingangs schon erwähnt, mit dem Störsound der Umgebung zu kämpfen, begeistern dafür aber auch mit ihren übrigens rein instrumentalen Klangkonstrukten und mächtigen Soundwänden restlos.


Ein ganz großes Highlight am späten Nachmittag ist das Konzert von Gravenhurst in seiner Ruhe, Gelassenheit und Hingabe, das von Nick Talbot und seiner Band zwar so zu erwarten war, in seiner Innigkeit aber doch verblüfft, bis es wieder Soundclash mit dem Eintrommeln von We Have Band gibt. Die mögen eine wahnsinnig gute Liveband sein, aber so sehr ihre Songs das Publikum auch nach vorne pushen und zum Tanzen treiben, man hat das Gefühl, man habe nach drei Songs schon alles gehört. Für eine gute Stunde Bewegung ist es allemal geeignet. Und wer nicht rechtzeitig los läuft, bekommt halt bei Superpunk keinen Platz mehr, die so sehr begeistern, dass es die Band merkbar selbst nicht kalt lässt. Hier geht eine Ära zu Ende; eine der zurecht beliebtesten Rockbands dieses Landes geht endgültig in die Versenkung. Das ist Gänsehaut pur, ein ganz großer Abschied zwischen Freunden auf und vor der Bühne.

Der Abend gehört Erlend Øye und The Whitest Boy Alive. Sollte ihm vor drei Jahren mal wer gesagt haben, dass es zwar irrsinnig tight ist wenn man live seine zwei Alben in Perfektion und über die Maßen mitreißend herunterspielt, aber dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange ist, und sollte ihn das interessiert haben, dann hat er jetzt alles richtig gemacht. Die ganze Band blüht förmlich auf; die Fans kennen jeden Song und tanzen; es ist Platz da für kleine Spielchen und Mitsingnummern, die zu keinem Zeitpunkt peinlich wirken, weil Erlend Øye so was einfach kann. Für Missstimmungen sorgen lediglich die etwas übermotivierten Securities, die zwei Stage-Flitzer derart überzogen von der Bühne abräumen, dass auf Erlends Geheiß die ganze Band für mehrere Minuten abtritt um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Das wollen sie nicht sehen, hier sollen Love und Happiness herrschen. Zwei neue Stücke sind auch im Repertoire, die mehr als nur Appetit auf die neue Platte machen. Das sind jetzt schon unwiderstehliche Hits, da möchte man bitte ganz schnell mehr von. Nach anderthalb Stunden ist das Konzert vorbei und alle sind glücklich; Reptile Youth und Bratze versorgen die immer noch tanzwütigen anschließend noch im Zelt mit fettem Elektro-Rock.

Der Sonntag ist seit letztem Jahr als Singer-Songwriter-Tag für die ruhigeren Töne zuständig, und weil heute nur auf zwei Bühnen gespielt wird, hören auch endlich die ganz ärgerlichen Klangüberlappungen auf. Und bandtechnisch reiht sich hier noch einmal Höhepunkt an Highlight. Wird der warme, spielfreudige Folk von Next Stop: Horizon noch schläfrig und eher tröpfelnd von den ersten Frühaufstehern beäugt, ist es bei Wolke im Zelt schon selbst für die Band überraschend ordentlich voll. Es wird ein wundervoller Auftritt von Oliver Minck und Benedikt Filleböck, der mir etwas zurückgibt, was ich beim neuen Album "Für immer" etwas vermisst habe: dieses spezielle Wolke-Gefühl aus Aufgefangenwerden und Traurigkeit, das aber klar geht, weil Oliver Mincks Stimme tröstlich über allem schwebt. Nebenbei ist er sogar ein ausgezeichneter Entertainer und nimmt auch den melancholischeren Songs ein bißchen die ganz große Schwere, untermalt von Benedikt Filleböcks Piano. Es ist ein Fest und ein Jammer, dass es nach einer Dreiviertelstunde schon wieder vorbei ist.


Bei Dirk Darmstaedters Me & Cassity kommt dann auch der prophezeite Regenguss. Was schade ist, weil das Konzert mit begleitender Sonne sicherlich noch sehenswerter gewesen und warmherziger gewirkt hätte. Aber ein guter Platz im Zelt bei Moritz Krämer ist jetzt wertvoller. Moritz spielt in diesem Jahr mit Band, aber das tut der Intensität seiner Songs nicht den geringsten Abbruch. Wie er da so steht, den Kopf schief gelegt, in diesen wundervollen Klageliedern versunken - das hat eine so immense Tiefe, dass es immer wieder aufs neue sprachlos macht. Auch wenn ja keinesfalls alles nur traurig ist was er singt; aber es ist die Art wie er das macht, wie er betont und wie seine Stimme bricht, die emotional immer wieder den Rahmen sprengt. Auf den wilden Polit-Rock von Ja, Panik kann ich danach nicht, ich brauche eine kurze Verschnaufpause. Für die belgischen Isbells braucht man auch wieder seine Energie, um sich dieser massiven Schönheit in all ihrer Pracht widmen zu können. Davon abgesehen, dass Gaëtan Vandewoude und seine Band eine äußerst charmante Bühnenpräsenz haben und es bei einem fast schon zelebriert verpatzten Songauftakt auch etwas zu lachen gibt, sind es vor allem die Brillanz und die Wärme dieser wunderbaren Folkmusik, die vom ersten Ton bis zum sich in puren Bombast steigernden Finale noch lange im Ohr bleiben werden.

Über Niels Freverts Verlorenheit auf großer Bühne wurde schon erzählt, über Dear Reader auch - letztere dürften sich allerdings ziemlich gefreut haben, dass ihnen ein so großes Publikum im Zelt zuhören will. Das ist aber auch durchaus gerechtfertigt, denn die Songs der Südafrika-based Band strotzen nur so vor Energie; Cherilyn McNeill ist exzellent aufgelegt und spielt ein mitreißendes Konzert, das tatsächlich in diesem Moment nur noch von Boy auf der Hauptbühne überboten werden kann. Beim ersten Song bin ich noch skeptisch und verfahre nach dem Motto "Don't believe the hype", aber das fällt mit jedem weiteren Stück von mir ab. Es ist einfach unwiderstehliche Musik, die Valeska Steiner und Sonja Glass mit ihrer Band spielen. Das ist tanzbar, aber dem Sonntagabend angemessen nicht mehr zu aufreibend. Eben exakt die Art Musik, die dich mit gutem Gefühl ein Festival ausklingen und mit besten Erinnerungen nach Hause fahren lässt.

Ja, und was schreiben wir nun als Fazit unter dieses Festivalwochenende? Die Musik war ja wirklich wundervoll, und um die großen, intensiven Momente mit ihr abzuzählen, reichen die eigenen zwei Hände nicht aus. Ist Festival denn nicht primär die Musik, das Gefühl vom frei sein, vom an der frischen Luft sein mit Freunden und von einer großartigen Zeit? Denn dann könnte man nur das positivste Resümé ziehen vom BootBooHook 2012. In diesem Punkt hat alles mehr als gut funktioniert, war es so toll wie eh und je.

Statt dessen haftet dem Festival jetzt dieser seltsame Geruch des Ausverkaufs an, aber ist das fair? Who's to blame here? Wenn es Ärger mit den Nachbarn gibt, kann man ein Festival im Stadtinneren eben nicht abhalten. Das ist rechtlich nicht durchführbar und definitiv nicht Schuld des Veranstalters. Wenn ein größeres Gelände gefunden werden soll, damit mehr Leute darauf passen, ist das aus wirtschaftlichen Gründen ja grundsätzlich schon auch vertretbar wenngleich nicht weniger schade, weil es für eine gute Zeit, wie wir alle wissen, nicht unbedingt Unmengen von Menschen braucht. Aber für die ganz genauen, die es tatsächlich in Erwägung ziehen, aufgrund der weggefallenen Einzigartigkeit der Atmosphäre nächstes Jahr nicht wieder zu kommen, werden halt etliche nachrücken. That's the way it goes. Nein: da muss man wohl durch. Es wäre ein Jammer, sich all diese fantastischen Künstler entgehen zu lassen, weil man mit dem Gelände nicht zufrieden ist. Das BootBooHook 2013 ruft ja jetzt schon wieder nach uns.

Was bleibt, ist die Hoffnung, dass die Schwierigkeiten von diesem Jahr - Stichwort Soundclash - vielleicht im nächsten Jahr ausgemerzt werden. Dass den Veranstaltern vielleicht der ein oder andere Kniff einfällt, die Tristesse des Geländes etwas zu entkräften, es etwas ansehnlicher zu gestalten und somit aus einem Festival mit immensem Potenzial wieder eine völlig runde Sache zu machen. Und natürlich hofft man weiter, dass es nicht noch größer wird; dass es sich seine immense Qualität im Lineup erhält und nicht die Größe der Bands der Größe des Areals angepasst wird - und dem Geschmack potenzieller, "anspruchsloserer" Zielgruppen. Dafür spricht, dass mit Tapete Records ja immer noch ein Label von gutem Ton die Fäden zieht. Das hat es auch in diesem Jahr getan, und darum bleibt das Fazit doch überwiegend positiv, auch 2012. Und solange das so ist, braucht man sich um das BootBooHook auch keine großen Sorgen machen.

Aber dem Festivalfeeling im Lindener Bürgerpark eine dicke Träne nachweinen - das ist nicht nur erlaubt, das ist auch in höchstem Maße angebracht.



Text und Fotos: Kristof Beuthner