Der Festivalsommer ist ein Festivalapril. Und gerade am ersten Augustwochenende ist er das. Wie viele Wettereinbrüche biblischen Ausmaßes das Appletree Garden und andere zum gleichen Zeitpunkt stattfindenden Festivals heimgesucht haben, mit mir mittendrin, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Dass es die Laune nicht schmälert: Keine Frage. Denn wenn es eines weiteren Beweises bedurfte, dass Festival-Communities aus Unvermeidbarem trotzdem puren gemeinschaftlichen Hochgenuss supporten, war das Appletree Garden Festival 2025 ein weiterer, ein eindrucksvoller.
Es ist ja auch nicht so gewesen, dass sich das nicht angekündigt hatte. Tagelanger Regen hatten die Parkflächen unbrauchbar gemacht; die Besuchenden, die nicht auf dem Caravan-Platz standen, mussten wie schon vor zwei Jahren mit dem Diepholzer Marktplatz als Carpark vorlieb nehmen. Schon beim Aussteigen dort blickt man in entspannte, glückliche, vorfreudige Gesichter. Im Shuttle quer durch die Stadt: Gelöste Stimmung. Glitzernde, freundliche Menschen. Und ich habe das Gefühl, je weiter sich die Gesellschaft von allen Zuständen gegenseitiger Liebe, Respekt und Verständnis entfernt, desto mehr saugen wir alle Stimmungen wie diese in uns auf. Das Märchenland, das das Appletree Garden ja sowieso schon immer war, wird immer mehr auch zur Zuflucht vor den vergrämten, verbissenen und unerträglichen Menschen, die so vielen von uns das Leben schwer machen.
Der erste Weg über den Campingplatz, die ersten Umarmungen, ihr habt Glitzer im Gesicht, jetzt hab ich das auch. Ihr gebt das Glitzern weiter wie einen magischen Umhang unter dem an diesem Wochenende alle Platz finden. Die wieder ein viel zu langes Jahr über schmerzlich vermisste Utopie eines märchenhaften Ortes an dem alle gleich sind, sie nimmt unser Herz in ihre wärmenden Hände. Nicht in ein einziges unfreundliches, bitteres Gesicht blicke ich an disem Wochenende, ob am Einlass, den Food-Ständen, vor oder hinter der Bühne. Der kurze Spaziergang übers Gelände, zwischen den Blumen, den Lichtern, den Lampions, er fühlt sich so gut an. Lichter leuchten heller wenn es grau drumherum ist, denke ich, und genieße dieses Gefühl.
So wie vermutlich jeder, der mit einem Festival auf die ein oder andere Weise verbunden ist, ein ganz besonderes familiäres Gefühl damit verbindet das sich nur äußerst schwer erschüttern lässt, geht es mir mit dem Appletree Garden. 2008, als ich zum ersten Mal hier war, eröffneten Omas ganzer Stolz die eine vorhandene Bühne, und The Robocop Kraus waren Headliner. Das Festival war auf dem Weg, aber noch weit davon entfernt das schillernde, bunte, leuchtende Wochenende zu sein, das es jetzt ist. Dass der wundervolle Eskapismus, den diese jahre überdauernde Bindung an diesen Ort inzwischen mit sich bringt, jedes Jahr aufs Neue innerhalb von Minuten funktioniert, ist ein Geschenk, das ich mit 5499 anderen teile, die das Festival mal wieder ausverkauft sein lassen haben.
Und weil im Gegensatz zu den PKW-Parkplätzen das Gelände tatsächlich keine Schlammwüste ist (erfahrene Appletree-Aficionados wissen: Das ist nicht selbstverständlich!) geht es umso motivierter rein in den musikalischen Teil des Wochenendes. Zu den catchy Retro Grooves von Bon Enfant lässt sich ganz prima ankommen, irgendwo zwischen 70s-Fuzzrock und Stereolab-Eletronica ist schnell klar: Die Band aus Québec strahlt und passt vorzüglich genau zu diesem Zeitpunkt genau hierher. Lara Hulo ist mit ihrem queeren Indierock eine der Durchstarterinnen dieses Festivalsommers und beweist mit einer mitreißenden Show sehr eindrucksvoll, warum das so ist; ein hoher Mitsingfaktor inklusive. Zu einem wunderschönen Wiedersehen kommt es mit den Schweden der Shout Out Louds, die die Jubiläumsaufführung ihres Durchbruchsalbums „Howl! Howl! Gaff! Gaff!“ nun auch in den Diepholzer Bürgerpark bringen. Die Platte stammt aus dem Jahr 2006, da waren viele der Besuchenden gerade erst geboren oder noch sehr sehr klein, aber die absolut unverbrauchten Hits dieser Platte („The Comeback“ oder das unvergängliche „Please Please Please“) funktionieren auch für sie, und für die, die damals schon dabei waren, ist das sowieso ein wunderbares, wärmendes Revival aus der Indie-Discothek. Zum Abschluss reißen die Bremer Punks von Team Scheiße erwartungsgemäß alles ab was nicht niet- und nagelfest ist, und das ist eine pure Freude. Erstaunlich, wie viele Songs diese Band, deren Erfolgsstory vor vier Jahren so fulminant wie unerwartet begann, inzwischen im Gepäck hat, die inzwischen als veritable Punk-Gassenhauer durchgehen: Von „Vorratskammer“ über „Fa“ bis hin zu „Karstadtdetektiv“ ist das Publikum extrem textsicher und springfreudig. Der perfekte Mix aus Dada und stabilster Haltung. Immer wieder stark.
Das seit ein paar Jahren etablierte Spiegelzelt ist in diesem Jahr einem kunterbunten Zirkuszelt gewichen. Was sich optisch von außen erstmal nach Downgrade anfühlt, ist in Wirklichkeit ein totaler Gewinn. Zum einen weil die Außenwände zum Gelände hin offen sind und man so auch in den Genuss der Bands und Künstler:innen kommt wenn man keinen Platz mehr im Inneren gefunden hat; zum anderen, weil das aus bunt dekorierten Selfmade-Bäumen, großen, schwebenden Wolkenballons und einem wirklich farbenprächtigen Lichterspiel (zusammen mit den wieder mal hingebungsvoll von den Zuschauenden gebastelten Stangeninstallationen, die in allen Farben glitzern) die Herzen der Träumenden höher schlagen lässt.
Hier beginnt der Donnerstag mit grundstabilem Deutsch-Indie-Pop von Siggi, der seinen Sound zwar eher als Indie-Rap definiert, die Rap-Elemente zugunsten gesungener Lines aber eher in den Hintergrund treten lässt. Was fürs Herz und für die Unsicherheiten in den Zwischenzonen. Damit ist er in der hiesigen Musiklandschaft derzeit alles andere als alleine, aber es ist hochsympathisch und on point. Chloe Slater aus Manchester ist eine der großen Gewinnerinnen des Tages; ihre Mischung aus Grunge und Indiepop trifft voll. Eine ganz starke Performance, der Künstlerin fliegen die Herzen zu. Ich persönlich hatte mir etwas mehr Roughness erwartet, aber weil die Pop-Aspekte in ihrer Musik so einnehmend sind, hat sie mich ganz schnell trotzdem auf ihrer Seite. Zum Abschluss des Tages dreht Fat Dog das Zelt auf links, da lasse ich aber schon unter den im Dunkel der Nacht so wunderschön leuchtenden Bäumen den ersten Festivaltag mit einem letzten Kaltgetränk ausklingen.
Während Mel D. den Freitag auf der Hauptbühne mit einer äußerst entspannten und sehr sympathischen Performance einläutet, ist das Publikum noch merklich in Campingplatz-Aktivitäten involviert. Sie verpassen eine in sich ruhende und gleichzeitig powervolle Indie-Rock-Show die einen starken Vorgeschmack auf ihr im September erscheinendes LP-Debüt bietet – ahnen aber vielleicht schon, dass sich am Himmel etwas zusammenbraut. Und richtig, lange dauert es nicht bis es dazu kommt, was gefühlt jedes zweite Festival in diesem Sommer erlebt: Abbruch, Evakuierung, Sendepause. Ein Unwetter zieht über Diepholz, die nahe Scheune bietet Schutz für die einen, die sicheren Zelte und Womos für die anderen. Das Appletree Garden steht still.
Das wichtigste aber: Alle bleiben entspannt. Das kann man nur lieben. So ist es jetzt, nun muss man das beste daraus machen. Es liegt mir fern, das als selbstverständlich zu betrachten, weshalb diese Stimmung umso schöner wirkt. Natürlich schiebt sich im Timetable jetzt das ein oder andere nach hinten und mit der wunderbaren Catt, die eigentlich um 18:00 schon auf der Waldbühne stehen sollte, geht es mit über einstündiger Verspätung erst weiter. Ein sehr fokussierter, strahlender Auftritt mit wenigen Ansagen, was die Schönheit von Catts reich illustriertem, fulminantem Folkpop noch mehr zur Geltung bringt.
Durch den Wettereinbruch zahlen sich nun doch auch die mitgebrachten Gummistiefel aus. Donnerstag waren sie noch nicht nötig, heute sind sie überlebenswichtig. Doch auch in Gummistiefeln kann man tanzen. Zum Beispiel zu den Genre-Grenzgängern von Franc Moody auf der Waldbühne. Was ist das – Electro-Funk-Disco-Punk? Auf jeden Fall ist es aufregend, mitreißend und äußerst tanzbar, und Ausgelassenheit ist das beste Mittel gegen schlechtes Wetter. Während Faber auf der Main Stage natürlich eine fantastische Show spielt, weißt man natürlich schon vorher was man bekommt: Eine hochversierte Band, Laszivität und Provokation, ein textsicheres Publikum. Da sind Valentino Vivace zum Abschluss auf der Waldbühne die deutlich größere Überraschung: Angereist aus der Schweiz und angekommen erst eine Stunde vor der Show (das Auto ist liegen geblieben), das klingt eigentlich schwer nach Stress. Davon ist aber nichts zu spüren. Die Italo-Disco ist heute Abend das Ding, wie aus der Zeit gefallen, aber das mag man ja gerade auch gern (dazu später mehr). Das Publikum feiert es sehr und die Band ist davon äußerst gerührt. Klassischer Appletree-Effekt, welcome to Diepholz!
Am Samstag ist Land unter und es will und will nicht besser werden aber die Crowd zieht durch. Es will noch so viel entdeckt und liebgehabt werden in diesem Lineup, gleichzeitig schwimmen überall die Camps weg und es deutet sich schon an, dass die Abreise am Sonntag wohl eine beschwerliche werden wird. Per Social Media werden ausgeklügelte Ausgangspläne für den Zeltplatz gepostet, mit Autos ranfahren zum load in ist nicht, und den Caravanis wird früh klar gemacht, dass sie sich auf eine zeitintensive Rettungsaktion durch die Traktoren der anliegenden Landwirte einstellen können.
Zwischen ungebremster Euphorie, Regen und Matsch gibt es aber wenigstens keine erneute Unterbrechung. Dafür umso mehr Konzerte. Zum Beispiel von Fuffifufzich, deren Hype sich mir nach wie vor nicht so ganz erschließt. Muss es auch nicht, es ist schön zu sehen wie viel Liebe der Künstlerin vom Publikum aus entgegen strahlt. Synthiepop, Rap, und ist das nicht auch schon manchmal fast Schlager? Es trifft jedenfalls einen Nerv und das sei ihr gegönnt, my cup of tea ist es einfach nicht. Ähnlich geht es mir mit BIBIZA, Austropop, Wiener Schmäh und ganz viele Geschichten über Drogen. Hat einen Weinstand auf der Bühne und verspritzt Sekt ins Publikum, zu „Donau“ gibt’s die Wall of Death – auch hier ist es aber eindeutig mein Problem dass ich nicht andocke, denn die Show funktioniert prächtig.
Zum absoluten Highlight gerät einmal mehr das Konzert von Noga Erez – wer die Künstlerin aus Tel Aviv schon mal live gesehen hat (zum Beispiel bei ihren beiden vorherigen Appletree-Performances) weiß worauf er sich einstellen kann. Es ist der perfekte Mix aus Coolness und Lässigkeit, Elektro und Rap, extrem fetten Beats und berauschendem Flow. Auch wenn man an manchen Stellen des Geländes inzwischen bis zur Wade im Matsch versinkt ist Stillstehen die allerletzte Option.
Lange blieb die Frage offen, wer denn wohl den Secret Act Spot auf der Hauptbühne am Samstagabend besetzen würde. Das Ergebnis dürfte dann aber wohl nicht viele überrascht haben: Es sind natürlich Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, die übrigens bei ihrem ersten Appletree-Stelldichein noch Roberto Bianco hießen. Diese Band ist natürlich derzeit ein absoluter Nobrainer wenn man große Glücksgefühle vor der Bühne erzeugen will (es sei denn man bucht sie als Secret Act zur Rock am Ring). Bedeutet aber auch: No surprises here. Italo-Schlager, markige Ansagen, Schlager-Strudel. Funktioniert ganz wunderbar und wird auch dem Headliner-Status inzwischen absolut mehr als gerecht.
Mein persönlicher Headliner aber bringt das Appletree von der Waldbühne aus nach Hause. Orbit spielt auch schon zum zweiten Mal hier und hat noch am Vormittag einen auserwählten Kreis Neugieriger zur Pre-Listening-Sessions seines kommenden Albums empfangen. Es ist ein Appletree-Abschluss wie ich ihn liebe, denn auch orbit ist ein Act, der das träumerische, treibende, sphärische Gefühl von Nächten auf diesem Festival perfekt in Sound kleidet. Seine Musik zu beschreiben fällt mir immer noch schwer – Electronic Indie Pop trifft es vielleicht am besten und ist zugleich die profanste Beschreibung des Soges den dieser Künstler gerade live entwickelt. Ein wunderbares Finale.
Natürlich nicht für alle, denn Appletree-Nächte enden nicht um 2:00 auf der Waldbühne sondern um 5:00 im Tiefen Holz wenn der Bass nochmal schiebt und die letzten Tanzenden eine liebevolle, groovende, wabernde Masse auf dieser wunderschönen Lichtung bilden. Allein: Für mich ist hier Schluss. Nässe, Matsch und die schönste Reizüberflutung fordern ihren Tribut. Und das Appletree Garden 2025 geht ohne mich zu Ende.
Was von diesem Festivalwochenende bleibt, ist ein weiteres Mal das Gefühl, wie viel dieser happy place in Diepholz den Menschen bedeutet und wofür sie alle hier sind. Dass es trotz aller Unwegbarkeiten bis zum letzten Ton ausnahmslos liebestrunkene und freundliche Gesichter zu sehen gab, dass von An- bis Abreise kein böses Wort gesprochen wurde, dass hier eine Community beseelt unter den Lichtern tanzt und überwältigte Künstler:innen und Bands auf den Bühnen beeindruckt sind von so viel Liebe und Zugewandtheit – das geht, lebt und wirkt durch jede:n Einzelne:n Menschen, der entscheidet, sein erstes Augustwochenende an diesem Ort zu verbringen. Die Hingabe, mit der dieser Platz geschaffen wird, wird 1:1 belohnt. Das Appletree strahlt und du strahlst zurück. Was ist da schon ein bisschen Regen.
Ich sprach zwischendurch mit Menschen, die dieses besondere Appletree-Erfahrung zum ersten Mal gemacht haben in diesem Jahr und die sofort überzeugt waren, was für ein besonderer Ort hier in Diepholz inzwischen entstanden ist. Die erste Preisstufe der Tickets für 2026 ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausverkauft – Argumente zum Wiederkommen gab es auch in diesem Jahr wieder mehr als genug. Und auch ich freue mich jetzt schon aufs nächste Mal: An meinem happy place unter den leuchtenden Bäumen.
Text: Christina Schoh und Kristof Beuthner
Foto: Kristof Beuthner