Artikel 22.09.2011

Nillsons Best-Of-Album: 10 Gründe, Simon & Garfunkel nicht zu vergessen

Die Washington Times ist eine erlesene Zeitung, ganz ohne Frage. Wenn dieses Blatt sich also anschickt, eine Liste der zehn besten Simon & Garfunkel-Songs zu erstellen, sollte man Objektivität erwarten dürfen und nicht unbedingt Offensichtliches. Ich klicke also den Link an, der mich in die Hitliste führt. Es folgt Ernüchterung. Die großen Schlager bestimmen das Bild: „Mrs. Robinson“, „The Boxer“, „Bridge Over Troubled Water“. Auf Platz 1 natürlich „The Sounds Of Silence“. Große Songs, das bleibt unbestritten. Aber das sind eben auch die Stücke von Simon & Garfunkel, die keine Fragen mehr übrig lassen. Die durch Verwendungen in Filmen, auf Flowerpower-Samplern, im (seufz) Oldie-Radio, in merkwürdigen Vertonungen von Mariachi-Bands und Mallorca-Acts, einfach jeder kennt.

Und dann bekomme ich dieses Gefühl. Ich denke dann nach über meine Geschichte mit Paul Simon und Art Garfunkel, diesem fantastischen Duo, das die Wege für ungefähr jeden Singer und Songwriter mit sanfter Stimme und akustischem Beiwerk vorgetrampelt hat, obwohl es sich speziell in der späten Bandgeschichte eigentlich nie so richtig verstanden hat. Paul Simon, der große Vordenker, der Songschreiber; später selbst unfassbar erfolgreich mit dem, was wir heute bei Vampire Weekend Afrobeat nennen. Das Album „Graceland“ war ein Meilenstein. Art Garfunkel hatte „Bright Eyes“ für den Film „Watership Down“, hier als „Unten am Fluss“ bekannt, aber mehr war da auch nicht. Dafür hatte er die Stimme, die den Songs von Simon & Garfunkel ihr gewisses Etwas verlieh.

Und ich bin natürlich durch meine eigene Vita vollkommen S&G-geprägt. Ich habe wegen ihnen das Gitarre spielen begonnen. Sie waren mein Schlüssel zu den sanften, zu den einfühlsamen Sechzigern, weil sie angenehmerweise weitestgehend ohne Hippie-Pathos auskamen und trotzdem total Flower Power waren. Simon & Garfunkel brachten mich anderen Größen wie Nick Drake und Sufjan Stevens, Elliott Smith und ja, irgendwie auch Death Cab For Cutie nahe. Weil sie nicht nur Hits ablieferten, sondern sich auf ihren Alben auch große Lyrik fand.

Und dann muss ich sie doch wieder öffnen, die Tür zu meinem Musikregal, und dann muss ich doch alle Simon & Garfunkel-Platten hören, und sehr schnell konstatieren: die Liste der Washington Times hat nicht Unrecht, aber sie setzt falsche Schwerpunkte und drängt Simon & Garfunkel in eine Ecke, in die sie meines Erachtens nach nicht gehören. Sie sind mehr als alter Folk, mehr als ein paar Hits fürs Oldie-Radio und für Filme. Sie sind das wahrscheinlich größte Singer-Songwriter-Duo, das es je gegeben hat – und je geben wird. Das seine unermessliche Größe vor allem auch in den ruhigen Zwischentönen fand, sich äußernd in den Songs auf den fünf regulären Alben, die eher in den Hintergrund gerutscht waren. Oder generell: beinahe auf jedem Song vom durch und durch poetischen „Parsley, Sage, Rosemary & Thyme“.

Einen Beweisversuch tritt das neue Nillson-Best-Of-Album an: mit zehn Songs, die Simon & Garfunkel von der anderen, der „nicht-hittigen“ Seite zeigen. Zehn Songs, für die es sich lohnt, diese beiden Künstler niemals, wirklich niemals zu vergessen. Und dann bin ich froh, dass die Washington Times wenigstens mit ein paar Songs Recht hatte.

"7 o’clock News / Silent Night“
Es mag ja pathetisch sein, aber dennoch: für uns Unbeteiligte ist es ein ganz besonderes, Gänsehaut erzeugendes Erlebnis, wenn sich in das Weihnachtslied „Stille Nacht“, stehend für Ruhe, Geborgenheit, Wärme, mit ansteigender Lautstärke die erste Meldung in den amerikanischen Nachrichten zum Ausbruch des Krieges in Vietnam mischt. Man fragt sich zunächst, warum man eine Stimme im Hintergrund hört, hält es für eine Störung – sobald man aber realisiert, wovon diese Stimme spricht, verneigt man sich vor Ehrfurcht vor der guten Idee.

“Scarborough Fair / Canticle”
In eine ähnliche Kerbe schlägt auch die Neuvertonung des britischen Traditional “Scarborough Fair”, im Wechselgesang versetzt mit dem Anti-Kriegs-Song „Canticle“. Es ist einfach eindrucksvoll, wie durch die neue Zusammensetzung ein Lied in seiner Bedeutung vollkommen neu ausgelegt werden kann. Als Eröffnungsstück für das "Parsley, Sage, Rosemary & Thyme"-Album, das randvoll ist mit großer Lyrik und Poesie, hätte kein besseres gewählt werden können.

“Song For The Asking”
Der “Song For The Asking” beschließt das “Bridge Over Troubled Water”-Album. Und macht nach den knalligen “Why Don’t You Write Me” und dem Cover “Bye Bye Love” der von Paul und Art seit jeher glühend verehrten Everly Brothers noch einmal das, was zwei Stimmen und eine Gitarre am besten können: Zuversicht verbreiten und schützend die Hand über dich legen. „Here is my song for the asking, ask me and I will play so sweetly I’ll make you smile“. You sure do.

“Sparrow”
Was Moritz Krämer über die Lebensleiden des kleinen Spatzes singt, haben Paul und Art auf dem “Wednesday Morning, 3AM”-Album schon einmal so ähnlich erzählt. Hier findet der kleine Vogel in seiner Verzweiflung niemanden, der ihm Schutz, Obdach, Futter oder wenigstens ein nettes Wort bieten mag, bis die Erde ihn wieder zu sich nimmt: „From dust were ye made, and dust ye shall be“. Eine äußerst innige Parabel auf einen Außenseiter.

“For Emily, Whenever I May Find Her”
Dieser Song zeigt Paul Simon als den großen Lyriker, der er ist. Der gesamte Text ist pure Poesie und die englische Sprache in Schön- und Vollkommenheit: „What a dream I had, pressed in organdy, clothed in crinoline of smoky burgundy“ oder „and when you ran to me, your cheeks flushed with the night, we walked on frosted fields, of juniper and lamplight“ – wer sich den Klang dieser Worte vergegenwärtigt, könnte erahnen, wo Decemberists-Texter Colin Meloy seine Inspiration und sein Faible für sprachlichen Wohlklang her hat.

“Flowers Never Bend With The Rainfall”
Zur zuckersüßen Melodie, geradezu gemacht für den Schmelz der Stimme Art Garfunkels, erzählt Paul Simon von der herrlichen Illusion, ewig zu sein – „so I continue to continue to pretend / my life will never end“. Doch ewig stört der Zweifel das innere Idyll; dauert es, bis sich das ständig verändernde Spiegelbild als das leider doch alternde Ich manifestiert. Bis man endgültig realisiert hat, dass man es eben nicht ist. Ewig also. „So my fantasy becomes reality, and I must be what I must be and face tomorrow“.

“Wednesday Morning, 3AM”
Was für ein Geschenk dieser Song ist: die schlaflose Nacht beschreibend, das Mondlicht fällt ins Zimmer. Ein Raubüberfall wurde begangen, man ist auf der Flucht, voller Ungewissheit, was der nächste Tag bringen mag – Gedeih oder Verderben? Doch dann liegt da die Geliebte neben dir, schlummernd, die Brust hebt und senkt sich sacht und bietet in all dem Chaos doch eine Illusion von Geborgenheit. Und doch nagt die Gewissheit über das Unvermeidliche: „the morning is just a few hours away“.

”The Only Living Boy In New York”
Dafür, dass dieser Song es von einem eher unbekannten Stück von “Bridge Over Troubled Water” in den Fokus geschafft hat, ist nicht zuletzt Zach Braff zu danken, der es sehr treffend in die emotionalste Szene seines Films “Garden State” platziert hat. Ein Song über Verlassenheit, über Einsamkeit – „half of the time we’re gone, and we don’t know where“. In Wirklichkeit übrigens von Paul Simon geschrieben, als Art Garfunkel (Spitzname Tom) während der Albumaufnahmen in Mexiko weilte: „Tom, get your plane right on time, [...] fly down to Mexico“.

“Old Friends / Bookends”
Erschienen auf dem “Bookends”-Album, und in Kombination mit dem instrumentalen “Bookends Theme” zu verstehen, erzählt “Old Friends” die Geschichte von, nun ja, alten Freunden, gemeinsam durchs Leben gegangen, nun dem Abend ihres Daseins gegenüber stehend und dennoch im Schicksal der Endlichkeit in Zweisamkeit verbunden, vereint und sich Trost spendend, mit einem Augenzwinkern: “How terribly strange to be seventy!”

„Kathy’s Song“
Niemand kennt „Kathy’s Song“. Warum eigentlich nicht? Eher unscheinbar auf dem „Sounds Of Silence“-Album versteckt, wartet er mit den zärtlichsten Zeilen auf, die man für jemanden schreiben kann: „And so you see I’ve come to doubt / all that I once held as true / I stand alone without belief / the only truth I know is you“, oder „My mind’s distracted and confused / my thoughts are many miles away / they lie with you when you’re asleep / and kiss you when you start the day“. Kitschig? Von mir aus – aber eben auch wahrhaftig und groß.