Artikel 30.05.2012

Orange Blossom Special 2012 - Sag zum Abschied leise "Hömma!!"

Am Ende, als sich Rembert Stiewe, Reinhard Holstein und Förderer Peter Weber Sonntag Nacht nach der letzten Band auf der Bühne in den Armen lagen, wurde es doch wieder so richtig schön familiär beim Orange Blossom Special. Dabei hatte uns der Esel, das diesjährige Mottotier, nach dem heimelig-liebevollen "You're At Home, Baby" aus dem vergangenen Jahr erstmal ein mit erhobenem Zeigefinger unterstütztes "Hömma!!" entgegen gebellt.

Oder, pardon: ge-i-aaht. "Hömma!!", das im Westfälischen etwa so viel bedeutet wie "Hör mal!!", im Sinne von "Ey!!". Auf Pfälzisch wäre es übrigens "Horschemo!!" gewesen, aber das hätte komisch geklungen für ein Motto. Doch das nur am Rande. Bei all den Lobpreisungen über Familienbewusstsein in der großen OBS-Gemeinde und den allzu schwelgerischen, von Jahr zu Jahr stärkeren Liebesbekundungen von Besuchern und Journalisten, Bands und Organisatoren, die im letzten Jahr unter dem Namen "You're At Home, Baby" den Gipfel der Glückseligkeit erreicht hatten, tat so ein kleiner offensiver Klaps auf den Rücken in Form des prägnanten Mottos gut. Hömma, nicht stagnieren in Liebe und Zuneigung, denn Stagnation ist der größte Feind der Innovation! Weiter nun, kommt weiter, Freunde! Es gibt noch so viele Bands zu entdecken, so viel Sonne zum auf den Pelz scheinen lassen; so viel Bier, Rotwein und Ouzo zu vernichten! Ruht euch nicht aus auf dem Erreichten, lasst uns den Rock, den Blues, den Folk in noch feineren Formen ausbuddeln und gemeinsam genießen! Einer für alle, alle für einen! Freundschaften wollen schließlich gepflegt werden, und das schafft man nicht durch ein entspanntes Zurücklehnen im Liegestuhl. Und diese besondere Atmosphäre, von der jeder spricht, der mal zu Pfingsten im Glitterhouse-Garten gewesen ist, kreiert sich eben auch nicht aus sich selbst heraus.

Und, zugegeben: Die Messlatte hing hoch nach dem wirklich fantastischen letzten Jahr. Young Rebel Set, Golden Kanine, Gisbert zu Knyphausen (um nur die Speerspitzen aufzuzählen), dazu (heute Mount) Washington als erstmaliger Surprise Act - das mal eben zu überbieten wäre ein Kunstwerk. Doch die getreue Gemeinde war vertrauensvoll und kaufte das nach wie vor auf 1800 begrenzte Kartenkontingent schon im Januar leer. Sie tat gut daran. Denn so schwer das Vorhaben, die große Klasse von "You're At Home, Baby!" noch zu toppen, auch war: es gelang auf bravouröse Art und Weise.

Es war wieder die besondere Mischung im Aufgebot, die den Unterschied zu vielen anderen, ebenfalls sympathischen kleinen Festivals machte. Zum einen gibt es in Beverungen ein wirklich bemerkenswertes Gespür für qualitativ hochwertige Musik, die tatsächlich noch fast niemandem vorher großartig aufgefallen ist. Zum anderen existiert, speziell mit den labeleigenen und labelnahen Bands, eine Vertrauensbeziehung, die ihresgleichen sucht und vom Publikum in beeindruckender Manier begleitet wird. Wer schon mal da war, wird gerne wieder gesehen. Die Aufgeschlossenheit der Besucher gegenüber den Bands, die sich auch zum Schauen gerne unter die Zuschauer mischen, ist von nach wie vor von erstaunlicher Größe.

Da sagt ein Scott Matthew in waghalsiger Kurzfristigkeit einen Lückenfüller-Auftritt für die plötzlich verhinderte Amanda Rogers nebst ihrer Band The Pleasants zu und lockt damit schon um die Mittagszeit eine riesige Menschenmenge vor die kleine Bühne. Und das, obwohl er nicht einmal eigene Songs spielt, sondern sich solo, bewaffnet nur mit Gitarre und Ukulele, durch ein wunderbar inniges Repertoire, das mit Simon & Garfunkels "Kathy's Song" anfängt und bei Whitney Houstons "I Wanna Dance With Somebody" aufhört, covert. Und brilliert, weil diese herrlich waidwunde Stimme sogar aus dem Houston-Schlager eine Innigkeit herauskitzelt, die man vorher nicht erahnt hatte.

Da kommen diese alten Recken called The Fuzztones auf die Bühne, und zeigen mal so im Vorbeigehen der gesamten jungen Rockergarde, wo der Frosch die Locken hat und wie man so eine Bühne mit wehenden, schwarzen Mähnen und abgewetzten Lederwesten regelgerecht auseinander nimmt. Da steigt ein Rocco Recycle, den man mit seinen aus Schrott gebauten Instrumenten schon im letzten Jahr mächtig abgefeiert hat, vom Pausenfüller zum Hauptbühnen-Act auf und macht mit seiner Benzinkanistergitarre, Mülltonnendrums und einem irrsinnigen Entertainer-Gen solchen Spaß, dass die Fäuste schon am Samstagmittag um 12.00 in der Luft sind. Und da kehrt ein Chris Eckman, ohne dessen Anwesenheit (ob nun auf der Bühne oder sonstwo auf dem Areal) man sich ein Orange Blossom Special eh gar nicht mehr vorstellen kann, mit seiner neuesten Band The Frictions als diesjähriger Surprise Act zurück, und rechtfertigt die Zuneigung der Frühaufsteher durch feine, neue Sounds zwischen Alternative und Americana.

Schon der Freitag beginnt stilvoll, als die Niederländer von Alamo Race Track mit ihrem sehr warmherzigen Folkpop zeigen, warum sie für einen Support-Slot der Weakerthans ganz vortrefflich geeignet waren. Sie sorgen für einen Auftakt nach Maß; nicht zu aufdringlich, aber vorgreifend auf alles, was noch kommen würde. Beispielsweise Christian Kjellvander, der mit seiner tiefdüsteren Melancholie schon fast eine Klasse für sich ist. Und zum OBS passt wie die Faust aufs Auge: Hochgradig intensiv und zum Niederknien melodisch ist das Konzert des Schweden ein frühes Festivalhighlight. Es folgen die Moon Invaders, die mit ihrem Mix aus Reggae, Ska und Soul zwar auf der geschmackssicheren Seite sind, bei der Länge ihres Konzertes allerdings unter der gleichen Krankheit wie viele ihrer Artgenossen leiden: Es klingt alles sehr ähnlich und wirkt damit bei über einer Stunde Spielzeit etwas eintönig. Und dann, The Miserable Rich, die ungekrönten Könige des OBS 2009. Wer die Briten damals am Nachmittag Rotwein trinkend bei ihren charmanten Ansagen und kleinen Geschichten im Rahmen der noch charmanteren Songs zwischen Folk, Chanson und Pop zuhörte, und wer das damals mochte, bekam durch die Dunkelheit und ein Schlagzeug, das damals noch nicht da war, noch Sahne auf den Kuchen. Ein Auftritt voller Grandezza und Schönheit; eine Rückkehr als optimaler Freitag-Abend-Headliner.

Dann, am Samstag, das erste Versäumnis meinerseits: Der Auftritt von Andrea Schroeder muss leider einem meiner Interviewtermine weichen (ihr lest mehr in Kürze!). Und Israel Nash Gripka aus New York schaffe ich auch nur zur Hälfte. Was ich da allerdings geboten bekomme, gefällt mir gut: Ein grunderdiger Mix aus Blues, Country und Americana. Ich höre nicht wenige Besucher älteren Semesters von einer Renaissance glorreicher OBS-Anfangszeiten schwärmen. Anschließend spielen Navel, deren Konzert ein fantastischer Ersatz für die ausgefallenen Kill It Kid ist. Ihr im vergangenen Jahr erschienenes Album "Neo Noir" hatte ja mit seiner Brachialität und seinen vielen Feinheiten schon zu gefallen gewusst; live legen die Schweizer noch eine Schippe drauf und spielen eine beeindruckende Show. Das gleiche gelingt Erland & The Carnival, die als einer der größeren Namen auch ein entsprechend großes Publikum finden. Ihre hochgradig virtuosen, immer wieder ausufernden Folksongs lassen nicht wenige Münder offen stehen und werden frenetisch bejubelt. Und nicht wenige hätten den Engländern wohl auch den Headliner-Posten am Samstag gegönnt. Denn mit dem schwelgerischen Postrock der Schweden von Immanu El kann merkbar nicht jeder etwas anfangen, wenngleich das Quintett für zwei Zugaben wieder auf die Bühne zurück geklatscht wird. Zu ähnlich sind sich die Stücke, zu oft wird vielleicht das Rezept wiederholt, sie mit langen, elegischen Soundwänden aufzubauen und sie mit großem Lärm in sich zusammen fallen zu lassen. Für mich jedoch, den alle drei Alben zutiefst begeistern und der in der (übrigens unverschämt jungen) Band so etwas wie eine edle light-Version der großen Isländer von Sigur Rós sieht, sind sie nicht mehr und nicht weniger als das absolute Tageshighlight. Die Projektion von Videosequenzen, die von der Band im Rahmen einer Dokumentation über ein Segelschiff gedreht wurden, und die Impressionen aus Meer, Wolken und wehenden Segeln zeigen, unterstützt die Stimmung und macht aus dem Konzert einen knapp anderthalbstündigen Trip aus Energie und purer Schönheit.

Der Sonntag beginnt für mich mit einer großen Überraschung, denn ich versöhne mich mit jemandem, dessen Verpflichtung fürs OBS ich bis dahin nie ganz habe nachvollziehen können. Doch wenn man Kevin Hamann alias Clickclickdecker zusieht, wie er seine Songs vorträgt, reduziert auf eine Gitarre und die musikalische Begleitung von Oliver Stangl; wie die beiden sich die Bälle zuspielen und Kevin Hamann plötzlich, wo er nicht vor kreischenden Teenies spielt, gar nicht mehr so arrogant wirkt wie ihm oft  vorgeworfen wird, sondern nahbar und ehrlich, da springt der Funke auch auf mich über und ich genieße jede Minute. Und noch mehr funkt es bei Nive Nielsen und ihren Deer Children. Die grönländische Neueroberung von Glitterhouse spielt ein so entzückend natürliches, so herrlich verspieltes Konzert und harmoniert mit ihrer Band und der strahlenden Sonne so vortrefflich, dass man Auge und Ohr nicht abwenden kann. Und weil man auf der wunderbaren Platte "Nive Sings!", übrigens einem der Verkaufsschlager am Merch-Stand, die grönländisch gesungenen Songs nicht verstanden hat, ist es schön, dass sie die Bedeutung dieser erklärt und der vordergründigen Niedlichkeit eine nicht unbeträchtliche Tiefe verleiht.

"Diese Band hat mehr Qualität als gewisse Artgenossen, die damit wesentlich erfolgreicher sind!", sagt Rembert Stiewe die Travelling Band an, und er hat Recht damit. Denn wo die Fleet Foxes und Mumford & Sons (die damit sicherlich gemeint waren) häufig in ihrer rauschebärtigen Brillanz erstarren, bringen die Herren aus Manchester eine gehörige Portion Drive und Energie mit in ihren fein ausgewogenen Mix aus Folk und Country. Das findet auch das Publikum und lässt sich zu wahren Jubelstürmen hinreißen. Die Fog Joggers, OBS-Wiederholungstäter, können dem leider nicht viel entgegen setzen, wenn sie auch durch ihre barfüßige Unbedarftheit Sympathiepunkte sammeln. Sei es, weil sie gegenüber der hohen Qualität ihrer "Vorbands" einen schweren Stand haben oder sie in dem Genre, in dem sie sich bewegen - Powerpop, angereichert mit Anleihen aus Folk und Rock; irgendjemand sprach von "Mando Diao mit ner Orgel" - zu starke Konkurrenz haben: mehr als solide ist der Auftritt nicht. Und auch zu Orph bekomme ich noch nicht direkt den Dreh. Ich ahne, dass da Großes im Gange ist bei den rot bemantelten Weimarern, und es hat fraglos jede Menge Klasse, allein es zündet noch keine Kerze an bei mir. Ein Wiedersehen zur Meinungspräzisierung ist hier jedenfalls dringend gewünscht.

Dafür reißen die Flying Eyes aus Baltimore es raus. Und wie. Man stelle sich das mal vor: Ein Haufen blutjunger Typen schlägt dir die Blaupause für dreckigen Seventies-Psychedelic-Rock um die Ohren. Und es funktioniert irrsinnig gut. Auch wenn neben mir eine böse Zunge lästert, dass die Death Letters den gleichen Effekt vor zwei Jahren erzielt haben, obwohl sie nur zu zweit sind, würden wohl viele Besucher von der vollendeten Krönung eines über die Maßen gelungenen Festivalausklangs sprechen - wenn, ja wenn da nicht die großen wie großartigen Spain wären, deren Rückkehr ohne Frage auch die letzte aufzubringende Sympathie dieses Wochenendes zufliegt. Josh Haden und seine Band, deren exquisites neues Album "The Soul Of Spain" erstmals auf Glitterhouse erschienen ist, glänzen förmlich im Licht der Scheinwerfer; ihre melancholischen Songs kommen auf den Punkt präzise und nahbar wie eine tröstende Hand auf deiner Schulter. Kein Highlight der Bandgeschichte wird ausgelassen, und einen hörbaren Unterschied zwischen altem und neuem Songmaterial gibt es Gott sei Dank sowieso nicht. Und zwischendurch glänzt Haden dann auch noch als Entertainer und wirft den Leuten eine verschrobene Ansage nach der anderen zu. Keine Frage, Humor hat der Mann: Schon im Nillson-Interview (mehr bald hier!) hatte er angekündigt, sich abends an seinem großen Vorbild Ozzy Osborne orientieren zu wollen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich es nicht glauben können.

Der Abend - das Wochenende - klingt aus in Glückseligkeit, die dann am Ende natürlich doch da ist; nicht, weil man sich hier zwanghaft unter der Flagge des Kleinen und Familiären Honig um den Bart schmieren und alles über die Maßen romantisieren möchte, sondern weil - wie eingangs schon als wichtig konstatiert - sich alle Beteiligten merkbar die größtmögliche Mühe gegeben und das Maximum an Energie investiert haben, um hier ein schönes, sechzehntes Orange Blossom Special auf die Beine zu stellen. Viele Details wurden hinzugefügt; so grüßte der Wappenesel nicht nur übergroß von der Fassade des Glitterhouse-Nebengebäudes und als Plastik vor dem Eingang zum Gelände, sondern auch von unzähligen, in mühevoller Handarbeit gefertigten Stoffbeuteln, die für einen guten Zweck verkauft wurden. Das Publikum, seit jeher ein Haufen neugieriger Connaisseure, war auch in diesem Jahr unglaublich nett zu dem durchweg stimmigen, partiell sogar schlicht wundervollen Lineup, und nahm es sogar in Kauf, satte zwei Mal für eine Band - einmal sogar für einen Überraschungsgast - früher aufzustehen und sich schon um 11:30 Uhr vor der Bühne zu positionieren, und das in großer Zahl. Das ist und das bleibt für Veranstalter und Künstler ein nahezu einzigartiges Privileg und zeigt, mit welcher Wertschätzung und mit wieviel Vertrauen den Organisatoren in Aufgebot und Zeitplan begegnet wird.

Rembert und Reinhard, die Väter des guten Geschmacks, danken es mit warmen Abschiedsworten und einem kleinen Einblick in die Widrigkeiten des Geschäfts. Und sind sichtlich glücklich, dass ihr Konzept wieder aufgegangen ist in diesem Jahr. Schließlich ist es doch so, dass sich kein Orange Blossom Special mit dem anderen vergleichen lässt. Der rote Faden liegt musikalisch in der Klasse der Bands und in der Tatsache, dass die Spielpläne dramaturgisch sinnvoll inszeniert und durchdacht werden. Dass das Publikum sich auf ein gutes Gespür verlassen und sich vertrauensvoll Neuentdeckungen neben Halbbekanntheiten und langen Weggefährten ans Herz legen lassen darf, ohne Angst zu haben, dass es daneben geht. Totalausfälle, Notnägel, Lückenbüßer - sie sind hier nicht zu fürchten. Die große Hürde, immer noch einen drauf zu setzen, den Standart zu wahren, ohne sein Konzept aus dem Auge zu verlieren, ohne in die Seelenlosigkeit abzudriften und nur noch "in it for the money" - oder, noch schlimmer, "in it for the style" - zu sein, wurde genommen. Und wenn wir ehrlich sind, hatte das auch nicht wirklich in Frage gestanden.

Denn eines steht fest und ist mächtig beruhigend: Hip, stylisch und oberflächlich wird das Orange Blossom Special in diesem Leben nicht mehr. Das macht es für die Musiklandschaft so unverzichtbar und wichtig.

Text und Fotos: Kristof Beuthner