„Für viele“ ist es „ein fester Ankerpunkt im ansonsten eher unsteten Lebensfluss, ein für alle Beteiligten emotional höchst aufgeladener Fixpunkt, der verlässliche Orientierung bietet im dahin rasenden Jahresverlauf“. Eigentlich ist mit diesem Zitat aus dem Programmflyer des Orange Blossom Special 17 schon fast alles gesagt. Das diesjährige Motto „Bleiben“ ist sinnbildlich für das Festival. Man bleibt gern im Glitterhouse-Garten in Beverungen. Man atmet durch, hält inne, genießt. Und am Ende fragt man sich, wie sie wieder so schnell verfliegen konnte, die Zeit mit unserem Lieblingsfestival.

Zu seiner 17. Ausgabe ist das OBS ein wenig gewachsen. Veranstalter Rembert Stiewe und seine Crew weiteten die Fläche behutsam auf das Nachbargrundstück aus. Ein- und Ausgang wurden getrennt. Für das Publikum ergab das ein Mehr an Sicherheit und Komfort, zumal trotz Erweiterung nur 150 zusätzliche Eintrittskarten verkauft wurden. Wer eines der begehrten Tickets ergattern wollte, musste schnell sein. Bereits nach weniger als vier Tagen war das OBS 2013 ausverkauft. Diejenigen Glücklichen, die ihr Pfingstwochenende an der Weser verbrachten, erlebten Großartiges. Mit wie viel Herzblut, Muße und Fingerspitzengefühl die Veranstalter das Wochenende jedes Jahr vorbereiten, wie perfekt jede kleinste Stellschraube sitzt, mit welcher Leidenschaft immer wieder aufs Neue die Musik bei diesem „besten kleinen Open Air Festival der Welt“ (wie das OBS jüngst auch offiziell vom Rolling Stone geadelt wurde) gefeiert wird, ist hinlänglich bekannt, ja legendär.
Das Festival ist bei weitem kein Mittel zum Füllen der Glitterhouse-Kasse. Bands, Label und Publikum ziehen an einem Strang. Den wilden Zirkus Musikbusiness mahnt das Orange Blossom Special durch sein wunderbares Wesen Jahr für Jahr zur Mäßigung. Das OBS schätzt seine Rolle als Underdog in diesem „Dog Business“ und stellte 2013 erneut und wie selbstverständlich unter Beweis, wie viel Innovation in ihm steckt. Dabei ist es doch eigentlich so simpel: Es muss einfach immer nur die Musik da sein. Für dieses Credo kann man als Besucher gar nicht genug Applaus schenken.
Headliner ist beim OBS nur ein beschreibender Begriff für den Act, der auf dem Plakat am weitesten oben steht. Auch in diesem Jahr bewiesen die Organisatoren, dass es vor allem die feinfühlige Programmauswahl ist, die das Beverunger Festival zu einem ganz besonderen macht und dass man nie die plattgetretenen Pfade anderer wählt, sondern aufregende neue beschreitet. Die bewährte Mischung aus Glitterhouse-Bands, bereits etablierten Gruppen, die dem geneigten Publikum zuvor unbekannt waren und erfrischenden Newcomern zieht sich als roter Faden durch die OBS-Historie. Fest bestehende Freundschaftsbande zwischen Bands und Label werden gehegt und gepflegt.
In diesem Jahr küsste Glitterhouse Records seine alten Wegbegleiter und Grunge-Heroen von Come mit einem Re-Issue ihrer Platte „Eleven:Eleven“ wach. Als die Band um Thalia Zedek und Chris Brokaw dann am Sonntagabend in Originalbesetzung auf der Bühne stand, wurde schnell klar: Die rauen, kantigen Songs der Bostoner haben in mehr als 20 Jahren nichts von ihrer Energie und Wut verloren. Glitterhouse ist es zu verdanken, dass diese Truppe noch einmal das Bühnenlicht erblickte. Es ist eine wahre Freude zu sehen, wie viel Spaß Band und Label an der wieder aufgenommenen Zusammenarbeit haben. Die absolute Professionalität, mit der man in Beverungen den Künstlern den Rücken frei hält, das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Protagonisten auf der Bühne und Fleiß- und Herzarbeitern im Hintergrund, ist ein großes, fettes Stück vom OBS. Könnte sonst eine Künstlerin wie Caroline Keating einen so leichten und wundervollen Auftritt bieten? Könnte sie sonst während ihres Gigs so herzlich und unbeschwert mit Rembert Stiewe flachsen?

Wenn man als erste Band in der Running Order noch zum Ende des Festivals in bester Erinnerung bleibt, hat man alles richtig gemacht. Evening Hymns eröffneten am Freitagnachmittag mit melodiösem, schwelgerischem Indie-Folk die Bühne und standen weit oben in der Gunst des Publikums. Der behutsame, wunderschöne Auftritt der Kanadier ließ das Festival langsam erwachen.
In der Umbaupause brachen die Wolken und es hörte erst auf zu regnen, als der Matsch schon den gesamten Glitterhouse-Garten erobert hatte. Die Steaming Satellites konnten sich glücklich schätzen, bei ihrem Gig das Bühnendach über sich zu haben. Alle anderen versorgten sich mit Capes, Schirmen und wasserdichten Jacken, um einigermaßen trocken zu bleiben. Wie aber alle im Regen stehenblieben, um den Österreichern ein großes, würdiges Publikum zu bieten, das war nicht weniger als stark. Die Band, die bereits gemeinsam mit Portugal. The Man und den Two Gallants tourte, zollte mit ihrem psychedelisch-groovigen Indie-Rock Tribut.
Höhepunkt des ersten Festivaltags waren die Treetop Flyers. Die Londoner bewiesen live, warum sie vor zwei Jahren den Talentwettbewerb des Glastonbury Festivals gewannen. Einen Vergleich mit Crosby, Stills, Nash & Young darf man an dieser Stelle gerne einfügen. Bei ihrem Westküsten-Sound ist es kaum vorstellbar, dass die Jungs umgeben vom rauen britischen Klima aufgewachsen sind. Saftige Melodien, die soulig-markante Stimme von Sänger Reid Morrison: Die Sonne schien förmlich von der Bühne auf den Glitterhouse-Garten, wenn es auch während des Auftritts der Engländer Bindfäden regnete.
Für Slim Cessna’s Auto Club war der Slot zum Tagesausklang vielleicht ein bisschen zu groß. Die Band wirkte bei ihrem OBS-Auftritt vor zwei Jahren frischer und energiegeladener. Denen, die die Band zum ersten Mal hörten, konnten sich die anspruchsvollen und unbequemen Songlandschaften kaum erschließen. Viel zu selten gelang eine Kommunikation mit dem Publikum.

Grandios begann der Samstag mit zwei Herren. Mick Flannery bespielte die OBS-Bühne mit prägnantem, kratzigem Singer/Songwriter-Folk im Stile von Bob Dylan. Nummer-Eins-Album in Irland? Absolut verdient. Nach einem kurzen, flüchtigen Blick fragte ich mich, wo denn Drums und Percussion beim Auftritt von Daniel Norgren entsprangen. Da ist doch nicht etwa ein Drum-Computer dabei? Als ich dann einen Schritt weiter nach vorne trat, schämte ich mich fast für das Gedachte. Der hünenhafte Norgren saß ohne Schuhe auf einem Hocker in der Mitte der Bühne, bediente mit den Füßen die Drums und fabrizierte mit den Fingern den bluesigsten Blues auf der Gitarre. Jeder Song eine Perle.
Herrlich wie abgedreht im Anschluss der Auftritt von The Fabulous Penetrators war. Sänger Liam Casey könnte das uneheliche Kind von Doc Emmett Brown sein. Der DeLorean ist auf jeden Fall an einem Ort mit Rock’n’Roll gelandet. In Outfits zwischen absoluter Stil- und völliger Geschmacklosigkeit fegte das Quartett vergnügt und kurzweilig durch den Glitterhouse-Garten. Noch so einen skurrilen Auftritt lieferte Hamburgs bestangezogene Cover-Band Boy Division. War die Truppe nach ihrem brachialen Ritt durch die Musikgeschichte noch beim Schützenfest im Nachbarort Lauenförde? Ihr knackiges Stelldichein am Nachmittag war in jedem Fall die progressive Variante eines Spielmannszugs. Wie ein Schützenbruder am Tag nach dem letzten Festtag freute ich mich dann aber auch, als ich die 20 Minuten ohne weitere Blessuren überstanden hatte. Das war spannend und witzig, hat dann aber auch schlussendlich genügt, um ehrlich zu sein.
Skinny Lister ist nicht „deine durchschnittliche, moderne, gentrifizierte Folk-Gruppe“. Die Selbstbeschreibung auf der Internetseite der Band aus South East London kann wohl als Seitenhieb auf die Folk-Pop-Welle der letzten Jahre verstanden werden, die viele beliebige und austauschbare Bands hervorbrachte. Durchschnittlich und austauschbar war das exzessive Spektakel, das Lorna Thomas und ihre Herren am Festival-Samstag auf die Bühne zauberten, auf keinen Fall. Knarzige, traditionsreiche Songs, denen das Punk-Gewand unglaublich gut steht. Nicht nur für den Körpereinsatz und die Ausdauer, sondern auch für ihre grandiose Leidenschaft bekommen die Engländer eine glatte Eins. Puh, was für eine Festival-Band! Nach der Ekstase mit Skinny Lister hätte man eigentlich ein Sauerstoff-Zelt gebrauchen können. Sich danach ein bisschen abseits vom schnörkellosen, luftigen Indie-Pop von We Invented Paris berieseln zu lassen, hatte aber auch eine kurierende Wirkung. Das Unplugged-Intermezzo inmitten des Publikums war eine schöne Idee, blieb aber leider nur den wenigen Zuschauern in unmittelbarer Nähe vorbehalten. Eine Eins mit Abzügen.
Ob Nick Waterhouse zu Schulzeiten Einsen mit nach Hause gebracht hat, ist unbekannt. In jedem Fall hat er schon mit zwölf Jahren die Gitarre in die Hand genommen und sie danach scheinbar nur zum Essen und Schlafen wieder zur Seite gelegt. Sein musikalisches Schaffen startete er als 16-jähriger Bandleader bei Intelligista, einer einflussreichen Combo in der Underground-Szene von Orange County. 2013 brachte er mit seiner siebenköpfigen Band ungekünstelten, feinsinnigen, bis in kleinste Detail durchdachten Rhythm’n‘Blues auf die OBS-Bühne. Da hätte man sich glatt mal schicker anziehen sollen.

Nicht nachhaltig in Erinnerung blieb der Tagesabschluss mit Dry The River. Die fünfköpfige Band entfaltete auf der Bühne nur in den dynamischeren Passagen die auf ihrer LP „Shallow Bed“ so fesselnde Atmosphäre und tragende Melancholie. Einzig, wenn der volle Klangteppich dem Publikum entgegenschlug, wenn die Instrumente dominierten, hatten Dry The River ihre starken Momente. Falsett-Gesang ist aber vielleicht auch einfach nicht meine Tasse Tee.
Ein Brett war der Überraschungsact am Sonntagmorgen. Murder by Death, denen das OBS schon von ihrem Auftritt 2010 bekannt war, hatten leichtes Spiel beim Publikum. Feine Instrumentierung, ein einzigartiger Sound irgendwo zwischen Alternative Country und Folk Rock. Und zur Mitte des Gigs der Band aus Indiana linste auch die Sonne zwischen den Wolken hervor. Der tanzbare, beschwingte Indie-Pop von Crocozebrá machte große Lust auf mehr. Sowohl Christine Owman, als auch The DeSoto Caucus gingen aber in der Klasse der anderen Acts unter. Die bleibenden Momente fehlten. Schwer zu greifen und behäbig waren die Slots der Schwedin und der Dänen. Ich nehme mir aber vor, beiden eine zweite Chance über Tonträger zu geben.
Torpus & The Art Directors, wie fix ging das denn bitte? Zack. Vertrag beim Grand Hotel van Cleef. Zack. Erste Platte veröffentlicht. Zack. Mal eben aus dem Stand das Molotow in Hamburg ausverkauft. Und dann spielen die Fünf auch noch einen derart harmonischen und mit allen Weserwassern gewaschenen Auftritt beim OBS runter. Das ganze nachdem, so munkelte man, der Beverunger „Stadtkrug“ von diversen Bandmitgliedern nicht vor der Morgendämmerung verlassen wurde. „Fall in Love“ ist eine Hymne, Leute! Die Tonträger gingen nach dem Gig weg wie der Milchcafé beim Festival-Bäcker.
Als drittletzte Band des OBS hatten The Flaming Stars leider einen schwierigen Stand. Da nutzten einige die Zeit, um vor dem Grande Finale mit Come und Blaudzun zu verschnaufen. Dabei hätte ich den Gentlemen ein größeres Publikum sehr gegönnt. Gerade, weil ihnen wie anderen exzellenten Bands aus UK bisher eine größere Präsenz auf dem europäischen Festland verwehrt blieb. Ocean Colour Scene oder Suede kommen in den Sinn. Im Vergleich zu den genannten fehlten den Flaming Stars zwar die wirklich eingängigen Songs, zwischendrin blitzte dennoch immer wieder feinster Britpop durch.

Dass während der Schlussakkorde von Blaudzun und seiner Band erneut der Regen einsetzte, war den Besucher des OBS Festivals 2013 herzlich egal. Sie hatten ein wunderbar aufregendes Wochenende erlebt und da störte der ein oder andere Regentropfen auch nicht mehr. Einen besseren Schlusspunkt für die drei Tage als Blaudzun hätte es außerdem nicht geben können. Der Arnheimer, mit bürgerlichem Namen Johannes Sigmond, dirigierte seine Band mit Blick auf die rundum glücklichen Gesichter im Publikum. Perfekte, orchestrale Arrangements und eine fabulöse Licht-Show machten den Auftritt des Niederländers für viele zum Höhepunkt des OBS 2013. Vielleicht war das eines der letzten Male, dass man ihn auf einer kleinen Bühne erleben durfte.
Und nach Blaudzun hole ich mir noch ein Bier und stelle mich in den Regen. Jetzt packe ich auch keinen Schirm mehr aus. Ist eh alles schon wieder nass. Musikliebhaber müssen auch mal einen Regenguss in Kauf nehmen. Das OBS ist ein Festival für Musikliebhaber. Die Musik verbindet. Ob man auf der Bühne oder im Publikum steht. Ob man klein ist wie die Kids mit ihren großen Ohrschützern, die dem bärtigen Blaudzun fasziniert aus dem Fotografengraben zusahen. Ob man groß ist wie Daniel Norgren, dieser Schwede aus Memphis. Ob man zum 17. Mal beim OBS dabei ist und alte Freunde wiedertrifft. Ob man zum ersten Mal dabei ist und neue Freundschaften schließt. Jeder ist willkommen. Das ist ein gutes Gefühl. Auch in diesem Jahr haben die Festivalmacher ein Line-Up präsentiert, das seinesgleichen sucht, und gemeinsam mit dem einfühlsamen Publikum eine Atmosphäre erzeugt, die in dieser Form in der hiesigen Festivallandschaft einmalig ist.
"Ich wünsch‘ dir alle Tage, dass dein Licht hell brennt und einen, der dich auffängt, wenn du fällst.“, sang Nils Koppruch. Ein Schrein im Glitterhouse-Garten erinnert an den im vergangenen Jahr viel zu früh verstorbenen Künstler und Musiker, dessen Name seit dem Fink-Auftritt 1998 eng mit Label und Festival verbunden ist. Vielleicht hat Nils Koppruch in „Kirschen (Wenn der Sommer kommt)“ ja gar keine Person gemeint. Vielleicht ist es einfach das OBS, das dich auffängt, wenn du fällst. Es findet jedes Jahr zu Pfingsten in Beverungen statt. Schaut doch mal vorbei!
Text: Daniel Deppe
Fotos: Marcel Remy