Artikel 27.07.2015

Romantik. Schönheit. Glanz. Und Liebe. Nillson beim Appletree Garden 2015.

Romantik. Warum spielen Element of Crime eigentlich nicht hier? Warum hat Sven Regener noch nie die Faust in den Diepholzer Nachthimmel gereckt und "Romantik!" gerufen? Was wäre das für eine Fusion. Das Appletree Garden ist Romantik. Und Schönheit. Und Glanz. Und Liebe.

Doch, Obacht. Bitte, lasst uns das nicht zu sehr verkitschen. Es würde den Verrücktheiten nicht gerecht, denen man Jahr für Jahr wieder begegnet, und all den feiernden Menschen, denn feiern auf Festivals ist nie kitschig, sondern frei und laut und betrunken, ob nun vom Alkohol oder von all den Eindrücken ist eigentlich nicht wichtig. Nicht einmal das Paar, das dieses Jahr vor der zweiten Bühne mit Standesbeamtem und den Crystal Fighters im Hintergrund geheiratet hat (!), war kitschig. (Wobei: Gerade las ich bei Facebook, dass jemand das Appletree Garden als kitschiges Kuschelfestival bezeichnete, und dass das auch total in Ordnung so ist. Ja, dann stimmt's vielleicht doch.)

Also. Man fällt ja generell im Nachhinein - vorzugsweise an übermüdeten Rückreisesonntagen auf der Couch oder den berühmten Montagen danach - so gerne der Versuchung anheim, Festivalwochenenden maßlos zu verklären, sie zum Allheilmittel gegen den von Struktur und Pflicht verratenen Alltag auszurufen und mit seligem Ausdruck auf dem endlich frisch geduschten Gesicht nochmal und nochmal und nochmal die Bildergalerie auf seinem Smartphone durchzuskippen. Natürlich ist es Romantik. Natürlich ist es Schönheit, Glanz und Liebe. Was sollte es auch sonst sein?

Was passiert aber, wenn dieses Gefühl nicht nachlässt? Wenn es gelingt, dass es so lange in einem wohnt, bis die nächste Ausgabe vor der Tür steht? So ist das ja seit Jahren hier. So geht es doch jedem, der mal hier gewesen ist, im Diepholzer Bürgerpark im Juli. Das ist dann doch, ich bitte euch, keine Verklärung mehr, oder? Ich meine, schon Sartre, der alte Romancier, hat gewusst: "Mit einem Festivalwochenende voll Liebe aber kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten", oder so ähnlich. Da könnte er vom Appletree Garden gesprochen haben, weil er ziemlich wahrscheinlich vor ein paar Jahren, als er bei der Guter-Ort-zum-Reinkarnieren-Maschine auf "random" gedrückt hatte, an einem Juliwochenende in Diepholz gelandet ist, auf dem Rücken liegend, den Blick gerichtet in die von bunten Lichtern beleuchteten Bürgerparkbäume. Mir war, als hätte ich ihn dort so gefunden, ihm kurz zugenickt und gewusst: Wir verstehen uns, mein Freund.

In diesem Jahr - dem Jahr 1 nach dem Weltuntergang, wir berichteten! - gab es außerdem etwas zu feiern, nämlich den 15. Geburtstag des immer noch mit 5000 Gästen herrlich kleinen und familiären Herzensfestivals im ansonsten gar nicht unbedingt so herzerfrischenden Diepholz (no offense!). Wer den kleinen Festivalplaner aufschlug und den rührenden Einführungstext von 11 Freunde-Redakteur Dirk Gieselmann (einem local hero, wenn man so will), der aus dem Zeitungsbericht zur Erstausgabe Standartfloskeln wie "Volksfeststimmung bei bestem Wetter" oder "Tausende feierten ein friedliches Fest" zitiert und sie neben weitaus wahrhaftigere (und poetischere!) Sätze wie "Nichts schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein" oder "Wenn ich ein Tier wäre, wäre ich ein Baum" stellt, die den Geist dieses Festivals auf den Kopf treffen - der wusste, wie es in jedem, der seit fünfzehn oder zehn oder fünf oder einem Jahr dabei ist, aussieht. In jedem Satz: Romantik. Schönheit. Glanz. Liebe. Eine Retrospektive, so kurz und pointiert und zärtlich und wahr, dass ich sie eigentlich in Gänze hier zitieren müsste; allein, es fehlt der Platz.

Alles war also bereitet. Das Lineup, die Geburtstagsgästeliste, war variantenreich und nochmal wieder einen Tick erstklassiger als sonst und mit Liebe (!) zum Detail zusammengestellt; dazu außerdem auch noch rätselhaft, denn es gab gleich vier Geschenke in Form von leergelassenen Slots im Timetable, doch dazu erzähle ich später mehr. Ich hatte einen wunderschönen Moment, als ich der Ehre zuteil wurde, schon kurz vor dem offiziellen Einlass das Gelände durch die Hintertür betreten zu dürfen. Ich setzte mich auf eine Bank zwischen die beiden Bühnen und sah mich um. Ein Motto vom Orange Blossom Special hieß einmal "You're At Home, Baby" und blieb in seiner Wahrhaftigkeit seitdem unerreicht. Aber so ist das auch hier, dachte ich. Die mit Liebe (!) neu genähten Appletree-Flaggen wehten im Wind; der Spielplatz mit Slacklines und Bänderbaum, der uns wieder zu Kindern machen sollte, lag noch im Schlummer. Die Vögel sangen und es war noch wunderbar ruhig. So funktioniert Vorfreude, dachte ich.

Es ist das erste Mal, dass ich am Donnerstag schon in Diepholz war. Normalerweise hatte ich immer freitags noch arbeiten müssen und verpasst, wie er sich vom Warmup-Tag mit DJs und dann mit Spontankonzerten (Dabeigewesene erinnern sich an Friska Viljor auf dem Campingplatz!) zum vollwertigen Festivaltag gemausert hatte, an dem zwar nur die große Bühne bespielt wurde, aber an dem man einfach schon in Ruhe ankommen konnte, ohne gleich ganz intensiv mittendrin zu sein. Ein gutes Gefühl. Ein guter Tag.

Am Donnerstag also gibt es in diesem Jahr mit den Dänen von Blaue Blume gleich ein hochklassiges Eröffnungskonzert zwischen der Magie von Efterklang und Sigur Rós, wavigem Synthiepop und hin und wieder auch Noise-Ausbrüchen. Das stimmliche Spektrum von Jonas Smith ist erstaunlich. Ich hätte die Band auch gerne im Dunkeln gesehen und möchte diese Musik sofort mit nach Hause nehmen. So früh am Wochenende steht natürlich auch nur der vor der Bühne, der das wirklich sehen will; das ergibt ein dankbares und zugewandtes Publikum und vier glückliche Jungs da oben.

Reptile Youth - wieder Dänen - reißen uns aus unserer Hingabe. Mads Damgaard Kristiansen schmeißt sich schon beim zweiten Song in die Menge und lässt sich auf Händen tragen. Als die Band - noch in Duobesetzung - zum letzten Mal hier war, hatte sie nachts gespielt, im Dunkeln. Ihr elektronischer Punk mit Hang zur Eskalation funktioniert auch hier in der untergehenden Sonne prächtig. Auch das Konzept, mit dem Tour of Tours, diese Supergroup um Stefan Honig, Tim Neuhaus, Ian Fisher und Town Of Saints, kommen, greift grandios. Sind die Platten der einzelnen Vertreter bisher weiträumig an mir vorbei gestrichen, glänzen sie in zehnköpfiger Besetzung mit der vollen Wucht eines bombastischen Folkkonzerts, inklusive fünfstimmigem Gesang und Geige. Es ist die ganz große Show. Vielleicht spielt die Band einen Tick zu lang.

Länger jedenfalls als das erste gelüftete Geheimnis. Das hört auf den Namen Mighty Oaks. Die waren auch schon mal hier. Ergibt ja auch Sinn, zu seinem Geburtstag gute Freunde einzuladen. Wiedersehen macht Freude, ihr wisst Bescheid. Die Jungs sind inzwischen weithin etabliert zwischen Radio und Festivalbühne, und ich war ein bißchen skeptisch, ob ich mich über die Natürlichkeit ihrer Songs würde freuen können oder mich über ein wenig zu dick aufgetragene Größe ärgern müsste, so wie ich das auf der Platte empfand. Im Endeffekt war ich von der Brillanz überwältigt, die die Band über mir ausschüttete, und wäre ich nicht noch immer im Ankomm-Modus gewesen und somit noch so voll von all den Reizen um mich herum, hätte ich das Konzert zu den Highlights des Wochenendes gezählt. Die Elektroniker von Weval sind mir danach zu laut. Den Bruch packe ich grade nicht. Morgen ist auch noch ein Tag.

Ja, und was bitte passt besser zu einem Geburtstag in einem Ambiente, in dem wir alle wieder Kind sind für drei Tage, als eine Zaubershow? The Great Joy Leslie zeigt Kartentricks, zaubert Bälle so in die Hand von Festivalgästen, dass aus einem plötzlich drei werden und verteilt Lollis. Es ist und bleibt faszinierend. Die Münder sind offen vor Staunen. Für den Mainstage-Auftakt sorgt der pointierte Bluesrock von Jesper Munk, der für sein junges Alter eine unglaubliche Stimme hat und mit beneidenswerter Lässigkeit alle Musikmenschen wieder einsammelt. Bei Jake Isaac, der abwechselnd an Gitarre und Klavier die Waldbühne eröffnet, sind die Münder leider nicht nur vor Staunen offen, es wird nämlich viel zu viel geredet im Publikum, was ärgerlich ist, weil der beeindruckenden Solo-Performance dadurch viel Intensität geraubt wird. Doch Isaac fängt sie alle ein und darf nach einer ergreifenden Acapella-Nummer und stürmischen Forderungen nach Zugabe ein kleines Akustik-Set am Bänderbaum hinten dranhängen.

Es ist Zeit für das erste Tänzchen des Tages. Da kommen die Belgier Oscar & The Wolf gerade recht. Live ist ihr zwar verträumter, aber auch unfassbar tanzbarer Elektronik-Indiepop so viel ausdrucksstärker, so viel intensiver als aus den Boxen zuhause. Das liegt sicherlich zu einem großen Teil an Sänger Max Colombie, der sich grandios über die Bühne bewegt und selbst Teil der tanzenden und springenden Masse zu werden scheint. Die im Nachhinein aus vielen Mündern hochgelobten BRNS (by the way: Ich dachte bei dieser Abkürzung immer an Burns, die werden aber BRAINS ausgesprochen. Die Simpsons kontrollieren mein Gehirn!) und die so sehr in den Himmel gehobenen Wanda verpasse ich. Die sind ohnehin nicht meine Tasse Tee. Aber ich muss halt auch irgendwann mit all den Freunden sprechen, die ich wieder treffe; all die Menschen drücken, die ich lange nicht gesehen habe; und irgendwann muss ich auch mal was essen. Ein guter Zeitpunkt.

Aurora schaue ich mir in guter Gesellschaft an. Süß ist sie, die kleine Norwegerin, die mit "Running With The Wolves" natürlich einen echten Hit anbieten kann. Ich muss da zuhause nochmal nachhören, finde ich, weil ich die vielen faszinierten Stimmen der Menschen um mich herum mit meinen eigenen Eindrücken noch nicht ganz in Einklang bringen kann. Mir ist das häufig einen Tick zu niedlich, was die ambitioniert-experimentellen Sounds eigentlich eher konterkariert. Ich melde mich, wenn ich mehr sagen kann. Und begebe mich zu Erlend Øye alias Mr.-kann-alles-und-darf-auch-alles, im aktuellen Fall ja immerhin den unpeinlichsten Reggae, den man vermutlich nur mit einer isländischen Band wie The Rainbows zusammen spielen kann. Vielleicht waren meine Erwartungen zu hoch, jedenfalls ist das alles von der Bühne aus ein bißchen zu laid back und gechillt, und um das um diese Tageszeit an den Mann zu bringen, fehlt auch ein wenig die Dichte an Hits, die so ein großer Name verspricht. Doch das letzte Drittel des Konzerts reißt alles raus. Da zeigt der Norweger endlich, wie es aussieht, wenn er sich wohl fühlt auf einer Bühne, und die Band ergänzt ihre Lässigkeit um treibende Eleganz. Erlend tanzt, hüpft, lässt sich auf Händen tragen und das Publikum tanzt auch und eskaliert völlig, als zum Ausklang den leider im letzten Jahr aufgelösten The Whitest Boy Alive Tribut gezollt wird. Das macht insgesamt deutlich: Ja, Erlend Øye kann und darf alles, aber als Whitest Boy hat er einfach mehr überzeugt.

Erstmal ausruhen. The Acid hätte man anschauen können; immerhin gönnt uns das Appletree Garden ja Wegpausen von zehn Minuten zwischen den Bands, so dass man angenehm zwischen Haupt- und Waldbühne wechseln und sich sogar noch ein Getränk kaufen kann. Doch eine gute Positionierung für AnnenMayKantereit ist mir in diesem Moment wichtiger, und sie ist auch bitter nötig, weil der Bereich vor der Bühne schon bald aus allen Nähten platzt. Der nach wie vor unfassbarer  (und trotzdem in jeder Hinsicht berechtigter) Höhenflug der Kölner bescherte ihnen im vergangenen Jahr einen durch und durch magischen Moment als Eröffnungsband am Samstag, der ersten mit Sonne an einem regengetränkten Wochenende. Um mich herum rieben sich die Leute den Matsch aus den Augen, viele tanzten, jemand weinte, und die Band konnte es auch nicht so richtig fassen, was da gerade mit ihr geschah. Noch während der Zugabe schlich das Publikum im Kollektiv in Richtung Merch, um ganz sicher noch eine CD abzugreifen.

Heute sind AnnenMayKantereit die letzte Band auf der großen Bühne, und, welch herrliche Ironie, die erste mit Regen. Wieder sehe ich Tränen; dieses Mal tanzt jeder bis hinter dem Soundtower, doch heute kann jeder jeden einzelnen Song mitsingen, von der ersten bis zur letzten Zeile, und weiß ganz genau, was ihn hier erwartet. Wo das Element der Verwunderung wegfällt, bleiben immer noch diese fantastischen Songs mit ihren tief treffenden Weisheiten, diese die Seele umklammernde Stimme von Henning May und dieser Charme des Bewusstseins bei all den Apfelbaum-Menschen, bei der Entstehung von etwas ganz großem eine Rolle gespielt zu haben, was zu einem symbiotischen Händereichen zwischen Band und Zuhörern führt. Diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, und jeder hier kann sie miterzählen.

Es folgen noch Coely, die noch tighter wirkt als bei ihrer Show im Vorjahr und die Leute gefühlt noch höher springen lässt, womit sie beweist, dass sie in ihrem jungen Alter einen so späten Slot mit Leichtigkeit füllen kann; und die schräg-unterhaltsamen Die Vögel mit Techno und Tuba, aber meine Müdigkeit lässt sie heute zur Randnotiz werden. Beim Auftritt von AV AV AV schlummere ich schon selig. Höre plötzlich Regen prasseln. Und denke mir: Wenn jetzt mal kein Unglück geschieht.

Doch es geschieht. Der Himmel über Diepholz erinnert sich ans letzte Jahr und gibt alles, um den Leuten den Spaß zu vermiesen. Nicht nur der Himmel über Diepholz übrigens; der, dessen Handy noch Akku hat, berichtet davon, dass unter anderem das Wutzrock in Hamburg und das Rostock Rockt unter den Festivalopfern sind. Die Unwetterwarnung folgt sogleich, Campingplatzevakuierungspläne werden geschmiedet und ich bin heilfroh, dass ich das Gewitter auf der Couch eines guten Freundes aussitzen darf. Dass ich damit nur teilweise gewonnen habe, weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich bin nur fast schon dankbar, dass die Intergalactic Lovers ihren Auftritt aus Gründen absagen müssen und die von mir sehnlich erwartete Alice Phoebe Lou auf einen späteren Platz rückt. So verpasse ich nur L'Aupaire und SOAK, bevor ich mir die Gummistiefel anziehe und von einem Déjà-Vu ins andere wate. Der Parkplatz färbt sich schwarz und die Menschen reisen ab. Ich ahne, dass es kompliziert werden könnte, morgen mein Auto zu befreien.

Doch was bitte soll's? Letztes Jahr wäre ohne den Regen niemals so intensiv geworden. Ja, ich geb zu, ich habe auch dieses Jahr wieder die falschen Klamotten an, und so nass wie in diesem Jahr bin ich 2014 zu keinem Zeitpunkt geworden, aber spätestens, als ich mich im Laufe des Nachmittags umziehe (wobei ich feststelle, dass die Bäume rund um das Festivalgelände das schlimmste, den zerrenden Sturm nämlich, noch von uns fernhalten und wir eigentlich echt ohne Ende glücklich sein müssten), wandelt sich Regenresignation wieder in Aufbruchsstimmung, und der Zauberer mit den Äpfeln auf dem Spitzhut meißelt mir die berühmten Worte "Jetzt erst recht" von innen in den Kopf. Dazu passen Die Nerven, die ganz neu bei Glitterhouse gesignt sind und sicherlich die anderste Band sind, die ich seit langem dort gesehen habe. Aber ihre stoisch-kritisch-resignativen Lyrics zu den treibend-noisigen Punk-Riffs drücken so mit Nachdruck in die Magengrube, dass man sich ihrer Faszination nicht entziehen kann. Der Rest mosht sich die Regentropfen vom Cape. Das habe ich hier so auch noch nicht gesehen.

Es gießt und gießt. Auf die Rückkehrer Sizarr, deren Sänger besser angezogen ist als beim letzten Mal, und auf Jack Garratt, der eine echte Entdeckung darstellt, so wie er da Beats und Loops und Soul und Dubstep und Pop zu einem wahren Ungetüm auftürmt und die Herzen im Sturm gewinnt. Friska Viljor, das erste gelüftete Geheimnis des Samstags, sind sowieso darin. Die beiden Schweden sind schon zum dritten Mal dabei, dieses Mal herrlich pur und reduziert auf zwei Stimmen und zwei Gitarren, mit all ihren waidwunden Songs, die von Liebe, Schnaps und Tod erzählen. Romantik! Und dann ist da noch Benjamin Clementine, der ein wild energisches Soulkonzert spielt und alle zum Staunen bringt, so kunstvoll ist das. Ich bin hochzufrieden. Die neue Jacke hält.

Darwin Deez ist der dritte geheime Künstler. Sein Konzert ist das Highlight des Festivals; wenigstens des Samstags. Mit dem kleinen Wermutstropfen, dass er darauf  verzichtet, seinen Hit "Radar Detector" zu spielen, über den ich mich persönlich sehr gefreut hätte. Aber seine Präsenz da oben ist unheimlich einnehmend und die Show macht einfach Spaß. Gespickt mit kleinen Showeinlagen übrigens; unter anderem zu Enyas "Sail Away" und Michael Jackson. So geht Entertainment, ohne in billige Jokes abzudriften. Dass Frittenbude das bis zuletzt am stärksten gehütete Geheimnis sind, kann dem nichts hinzufügen. Live sind die immer gut, und die Hits, allen voran "Mindestens in 1000 Jahren", sind die gewohnte Bereicherung für einen gelungenen Festivalabend. Nothing more, nothing less.

Der Abend endet mit Tocotronic. Die Herren zu sehen, ist ja jedes Mal ein großer Genuss, und besonders erfreulich für Alteingesessene und Newbies ist, dass sie nicht einfach ihr aktuelles Album präsentieren, sondern sich mit deutlich viel Spaß durch ihre gesamte Bandgeschichte zocken. Wer danach noch Lust hat zu tanzen, ist bei Say Yes Dog auf der kleinen Bühne mehr als gut aufgehoben. Da gibt es allerfeinsten Elektropop, treibend, energetisch, fließend und perfekt geeignet, um uns in die Nacht zu entlassen. Aber müde ist noch kein Mensch, dafür stehen die Herzen zu weit offen, und das DJ-Team Tanzklub Ost hat leichtes Spiel mit ziemlich überraschender Set-Zusammenstellung. Plötzlich tanzen wir zu Phil Collins' "You Can't Hurry Love" neben Kanyes "Gold Digger" und sogar NEKs "Laura non c'e". Aber es war unheimlich gut. Und auf einmal, da ist der Abend vorbei, das letzte Bier vor lauter Spaßhaben verpasst und die Musik aus.

Zurück sind all die Erinnerungen und Eindrücke, für die man jetzt ein Jahr Zeit hat, sie zu ordnen, zu schichten, sie im Kopf wieder zu durchleben, bis neue dazu kommen. Romantik. Erlend Oye, mit dem eingangs erwähnten Hochzeitspaar am Handbrotstand und mit seinem Doppelgänger, der am Merch im Stehen eingeschlafen ist. Und wieder. Schönheit. Ja! Glanz. Die Bilder von den bunt leuchtenden Bäumen, die wie schützende Wächter den Sturm von uns ferngehalten haben und bei Benjamin Clementine fast wirkten, als wiegten sie sich im Rhythmus, sind tief in uns drin und begleiten uns hinein in eine neue Woche, in der - wenn es schlecht läuft - wieder Struktur und Pflicht unseren Alltag verraten. Liebe. Für dieses Festival. Für dieses Gefühl.

Ja: "Mit einem Festivalwochenende voll Liebe aber kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten". Halt, warte! Mir fällt wieder ein, wie das Sartre-Zitat richtig geht. Er spricht eigentlich über Kindheit. Auch gut. Wenn man so will, waren wir am vergangenen Wochenende alle wieder Kinder. Zwischen Regentropfen, Dämmerlicht und Seifenblasen, die Haare verweht und die Herzen wild. Auf der Slackline, mit den Diabolos in der Hand, vor den Bühnen, im strömenden Weltuntergang, in strahlender Sonne. Unbeholfen, selig, fasziniert, geborgen. Nass bis auf die Haut und randvoll mit Glück.

Vielleicht gibt's da jetzt den ein oder anderen von euch, der tatsächlich von Kitsch spricht. Und Verklärung. Und es negativ meint. Das ist mir egal. Der war nicht dabei. Er kann es ja im nächsten Jahr mal selbst versuchen. Möglicherweise, sogar ziemlich wahrscheinlich, sieht er dann den reinkarnierten Jean-Paul Sartre selig lächelnd mit Handbrot und Cider unter einem Baum sitzen, nickt ihm zu und denkt: Ja, mein Freund. Wir verstehen uns.

 

Text und Fotos: Kristof Beuthner