Artikel 30.12.2015

The Musikjahr was one hell of a ride to the moon: Nillson-Jahrescharts 2015

Egal, wo man hinschaut: Kein Jahresrückblick für 2015 kommt ohne das Fazit aus, dass dieses Jahr ein besonders schlimmes gewesen ist. So viele furchtbare Dinge sind geschehen, da erscheint es fast als unverhältnismäßiger Müßiggang, sich zum Abschluss doch noch ein wenig über Musik zu unterhalten.

Aber es ist so: Trotz Flüchtlingswelle, Terrorangst, Pegida-Irrsinn und Flugzeugabstürzen hat niemand von uns – und von euch, nehme ich an – die Konsequenz aus einer aus den Fugen geratenen Welt so gezogen, dass Kopfhörer weggeräumt, Stecker von Plattenspielern gezogen oder Spotify-Accounts abgemeldet wurden.

Der Grund dafür ist ganz einfach: Musik ist immer eben auch Ventil, tröstende Hand, Projektionsfläche für unsere Stimmungen und Ängste und ja, natürlich auch Ablenkung. So ist es immer schon gewesen und so wird es auch immer sein. Wir brauchen Musik, und auch im vergangenen Jahr sind wir mehr als einmal froh gewesen, dass sie da gewesen ist für uns. Denn 2015 war musikalisch gesehen ein in jeder Hinsicht gutes, bereicherndes und spannendes Jahr.

Wir haben unglaublich viele wirklich tolle Platten angehört und berauschende Konzerte gesehen. Wir sind durch das ganze Land und teilweise sogar durch Europa gezogen, um spannende neue Bands zu Tage zu fördern und haben uns inspirieren, begeistern und überwältigen lassen. Alte geliebte Festivals haben wir zu Grabe getragen, liebevolle neue haben wir entdeckt. Wir haben Nächte durchgetanzt oder einfach nur mit dem Blick aus dem Fenster zugehört. Sind mit den Kopfhörern auf den Ohren auf dem Sofa eingeschlafen. Haben uns Texte ins Herz tätowiert. Das bleibt. Denn Musik ist nicht nur und wird niemals nur Musik sein. Musik, das sind ich und du und wir und ihr.

Das Frank Giering-Zitat aus „Absolute Giganten“ ist schon so häufig verwendet worden. Rückblickend auf dieses Jahr scheint es bedeutsamer denn je: „Weisst du was ich manchmal denke? Es müsste immer Musik da sein. Bei allem was du machst. Und wenn‘s so richtig scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da.“

Meine Damen und Herren: Die Nillson-Jahrescharts 2015.

Platz 30: Fismoll - Box Of Feathers

Nun sind wir schon so lange dran an Arkadiusz Glensk, der uns unter dem Namen Fismoll seit mittlerweile zwei Longplayern so stark begeistert, doch auch 2015 war es noch nichts mit einer Deutschland-Tour. Bleibt die Hoffnung auf 2016 – und bis dahin mit „Box Of Feathers“ wieder ein fragil-formschönes Songwriter-Album, das internationale Konkurrenz keineswegs zu scheuen braucht und mit Größen wie Bon Iver oder dem an dieser Stelle später noch besprochenen Sufjan Stevens durchaus mithalten kann. Nächstes Jahr wird dein Jahr und wir sind mit dir.

Platz 29: Jamie xx - In Colour

Noch immer warten wir ungeduldig auf das dritte Album von The xx. Dass deren Sound-Mastermind Jamie xx 2015 endlich sein erstes Solowerk am Start hatte, soll angeblich nicht zur Verlängerung der Wartezeit beitragen. Top! Nehmen wir das also auch mit. „In Colour“, das mit etlichen Kollaborationen aufwartet, zeigt Jamies großes Talent als Producer hochklassiger elektronischer Musik, hat einen ungeheuer mitreißenden Flow und läuft redaktionsintern immer noch auf heavy rotation. Spätestens jetzt versteht man, warum Indie-Größen bei dem Herrn für Remixes Schlange stehen.

Platz 28: Max Richter - SLEEP

Der Komponist Max Richter zieht den Löwenanteil deiner Energie und Inspiration nicht nur aus der Stille und Dunkelheit der Nacht, sondern auch aus dem Schlaf selbst. Sein Mammutwerk „SLEEP“ dauert acht Stunden, denen man gar nicht zwingend lauschend, sondern tatsächlich schlafend folgen sollte. Er ließ es in Berlin uraufführen, die Zuschauer bekamen Betten hingestellt. Am Erscheinungstag streamte er es in voller Länge und ließ die Hörer ihre Träume und Erfahrungen viral streuen. Ein riesengroßes, interaktives Projekt – dazu noch wundervolle Musik für Klavier, Streicher und Chor. 

Platz 27: Heyrocco - Teenage Movie Soundtrack

Was darf man von einem Album erwarten, das „Teenage Movie Soundtrack“ heißt? Nee, klar, sicherlich keinen fein ziselierten Artpop. Statt dessen: Gitarrenbrett, College-Slackerpop, 90er-referenzielle Roughness und Texte über Mädchen, Alkohol und zu-früh-Kommen und das sich-dafür-schämen. Heyrocco nehmen sich nicht zu ernst, spielen ihre Rollen aber perfekt und wirkten mit dieser Ansammlung von Hits auf angenehm-alberne Weise aus der Zeit gefallen. Unvergessen die Show beim Reeperbahn-Festival, an deren Ende der Sänger nackt war und seine Gitarre vögelte.

Platz 26: Liturgy - The Ark Work

Seit einigen Jahren ist im Metal etwas im Gange. Die Szene bewegt sich in ihren Nischen heraus aus der schwarzbehosten und kuttentragenden Phalanx der Erbverwalter und Bands wie Deafheaven oder eben Liturgy werden auch in Indie-Kreisen wieder verstärkt wahrgenommen. Was im Fall von „The Ark Work“ prima erklärbar ist: So vielschichtig und weitreichend beeinflusst hat man eine Metal-Scheibe selten gesehen. Da macht die Band um Hunter Hunt-Hendrix auch vor technoiden Beats, kruden Raps und sakralen Chören neben Dudelsack und Glockenspiel nicht Halt.

Platz 25: John Grant - Grey Tickles, Black Pressure

Der Wahl-Isländer John Grant gehört zu den sicherlich sympathischsten Künstlern des altenativen Pop: Nimmt sich selbst nicht zu ernst, tanzt dazu mit Bauch und Bart reichlich filigran auf dem dünnen Seil zwischen Folk und Elektropop. Hat auf zwei Alben vorher schon trefflich funktioniert; erlangt auf „Grey Tickles, Black Pressure“ nun einen vorläufigen Höhepunkt. Viel Humor, einiges an Pathos, mit Amanda Palmer und Tracey Thorn auch durchaus prominente Gäste: Wäre alles schön und gut, wenn John Grant nicht dazu auch noch so ein formidabler Songwriter wäre.

Platz 24: Rivulets - I Remember Everything

Nathan Amundson und die Traurigkeit: Das zunächst vinyl-only veröffentlichte „I Remember Everything“ war ein Musik gewordener, wehmütig-melancholischer Blick aus dem Fenster in eine graue, von Regenschleiern verwehte Landschaftstristesse; ein stoisch-lethargischer Americana-Traum, der sich nicht nur durch das Herzstück der Platte, das knapp acht Minuten lange „Ride On, Molina“ vor den unvergessenen Songs:Ohia verneigte. Dazu: Trauerperlen wie „Summer Rain“ oder „I Still Remember“, die wie eine tröstende Hand auf der Schulter waren. Es wird zwar nicht alles wieder gut, aber wenigstens sind wir damit nicht alleine.

Platz 23: CHVRCHES - Every Open Eye

Ich finde das immer wieder verblüffend, wie verschieden ehemalige gemeinsame Bandmitglieder sich auseinander entwickeln können. Wo Aereogrammes Craig B nach The Unwinding Hours mit A Mote Of Dust wieder ein wundervoll verschrobenes Minimalpop-Album aufgenommen hat, fahren seine Ex-Mitstreiter mit ihrem Projekt CHVRCHES nach wie vor beeindruckend straight auf der Elektropop-Schiene. Und vor allem verdammt erfolgreich. „Every Open Eye“ hievte die Band in die EDM-Bundesliga. Pop-Aficionados und Indie-Tanzwütige jubilierten gleichermaßen. Ein tolles Album.

Platz 22: Kiasmos - Kiasmos

Olafur Arnalds ist ein Alleskönner. Er ist nicht nur einer der tollsten zeitgenössischen neoklassischen Komponisten und geschätzter Nils-Frahm-Buddy (das gemeinsame Album „Collaborative Works“ gehört ebenfalls zu den Jahreshighlights). Zusammen mit dem Färinger Janus Rasmusson (of-Bloodgroup-fame) hat er unter dem Namen Kiasmos ein ständig flirrendes, mäanderndes, treibendes und gleichzeitig entspanntes Elektronik-Album veröffentlicht, das Rasmussons Techno-Liebe und Arnalds‘ Gespür für feingliedrige Klaviermelancholie vereinte.

Platz 21: Viva Belgrado - Flores, Carne

Ein gutes Jahr für spanische Bands: Wo Toundra mit ihrem Postrock-Meisterwerk „IV“ abermals Maßstäbe setzten, stammte eines der spannendsten Post-Hardcore Alben von Viva Belgrado aus Cordoba. Spanischsprachigen Hardcore hört man ja tatsächlich eher selten, und auch, wenn das abgegriffen klingt: Man braucht eigentlich auch hier nicht wirklich ein Wort verstehen, um all die genretypische Wut und Verzweiflung zu begreifen. Die deutlich hörbaren Postrock-Einflüsse tun ihr übriges, um „Flores, Carne“ zu einer der spannendsten Entdeckungen des Jahres zu deklarieren.

Platz 20: Godspeed You! Black Emperor - Asunder, Sweet And Other Distress

Da waren nicht wenige erstmal von den Socken: Das neue Album der Postrock-Granden kam mit einer Spielzeit von 40 Minuten aus und klang deutlich zugänglicher als alles, was man von Godspeed You! Black Emperor vorher kannte. Aber „Asunder, Sweet And Other Distress“ ist auch mit Sicherheit das konzentrierteste (im Sinne von: fokussierteste) Album der Band aus Montreal. Ambient-Flächen werden immer wieder von Noise-Ausbrüchen aufgespalten, der Sound türmt sich mächtig auf und schafft Momente purer energetischer Exhalation. Kurzum: Postrock at it’s best.

Platz 19: A Tribe Called Knarf - Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte

Worauf Verlass ist: Dass Knarf Rellöm sich für sein neues Album wieder anders nennt, dieses Mal also A Tribe Called Knarf. Dass die Platte nur vordergründig dadaistisch klingt und wieder vor Bissigkeit und Feinbeobachtungen nur so strotzt. Dass das Ganze unheimlich viel Spaß macht. Dass das wieder nichts für jeden ist. Dass das Knarf Rellöm ziemlich egal ist. Sagen wir’s, wie es ist: „Es ist die Wahrheit, obwohl es nie passierte“ markierte ein herrliches Wiedersehen mit Hamburgs schönstem Verschrobenheitspopulärmusiker. Das möchten wir gerne noch ganz oft so erleben.

Platz 18: Sea & Air - Evropi

Man kann das so sagen: 2015 war das Jahr von Eleni Zafiriadou und Daniel Benjamin alias Sea + Air. Ihr zweites Album „Evropi“ erschien beim Herzenslabel Glitterhouse, die Streuweite war enorm. Sämtliche geschmackssichere Medien rissen sich um das Ehepaar, es hagelte positive Kritiken von überall. Warum? Weil man an dem Mix aus eher traditionellen Folk-Balladen und von exotischen Instrumenten und Rembetiko-Referenzen getragenen Experimental-Pop-Stücken nur ganz schwer vorbei gehen konnte, ohne nicht mindestens zu staunen. Großes Kino, große Popmusik.

Platz 17: Circa Waves - Young Chasers

Das hatten wir lange nicht in einer Nillson-Abschlussliste: Eine junge Band aus Großbritannien, die vom NME mal wieder als Next Big Thing gehypt wird und unseren kritischen und ungläubigen Blicken trotzdem mit Bravour standhält. Natürlich ist nichts von dem, was Circa Waves aus Liverpool machen, wirklich neu oder innovativ, aber die Energie, mit der die Band Superhits wie „T-Shirt-Weather“ raushaut, kann einen nicht kalt lassen. Ein Album zwischen Surf- und Brit-Power-Pop, das ungeheuerlich viel Spaß machte und randvoll gespickt war mit Hits, Hits und Hits.

Platz 16: Noel Gallaghers High Flying Birds - Chasing Yesterday

Sich einem neuen Album von Noel Gallagher rein objektiv zu nähern, ist freilich schwer. Oasis-Fans verfolgen eh mit Spannung alles, was aus den Trümmern der streitlustigen Band neues zu Tage geführt wird; andere sind schon von vornherein genervt von all dem großmäuligen Talk, der damit einher geht. Aber völlig außer Frage steht, dass Noel Gallagher damals bei Oasis die treibende Kraft im Songwriting war und nichts verlernt hat. „Chasing Yesterday“ ist vielleicht keine innovative Offenbarung, aber zeigt in gewohnt großer Klasse das, was Noel Gallagher eben neben Schimpfen am besten kann.

Platz 15: Patrick Watson - Love Songs For Robots

Wer 2015 wissen wollte, wie stilsicherer und facettenreicher Indiepop in seiner schönsten Form klingen kann, konnte an „Love Songs For Robots“ des zuvor unter anderem für seine Kollaborationen mit The Cinematic Orchestra bekannten Patrick Watson eigentlich nicht vorbeischauen. Zwischen Psychedelia und Folkpop fand sich ein so einnehmender Reigen großartiger Melodien, dass es schier unmöglich war, nicht zu lächeln. Entspannt, unaufgeregt, melancholisch, trotzdem mitreißend: Das hat Patrick Watson, das eigentlich eine Band ist, richtig gut gemacht.

Platz 14: The Libertines - Anthems For Doomed Youth

Nein, ein wirkliches Ereignis war die Reunion einer der wichtigsten Indiebands der 00er Jahre dann im Endeffekt auch wieder nicht. Pete Doherty und Carl Barât endlich wieder vereint: Wer hat davon nicht geträumt? Als es dann doch soweit war, wirkte es, als wären die zwei auch gar nicht richtig weg gewesen in dieser Konstellation. Songs wie die Single „Gunga Din“ konnten immer noch alle anderen an die Wand spielen und auch wenn sie wie selbstgewünscht nicht einfach den Sound ihrer beiden herausragenden Alben kopierten, war „Anthems For Doomed Youth“ doch durch und durch eine Libertines-Platte. Ein feines Wiedersehen.

Platz 13: Kendrick Lamar - To Pimp A Butterfly

Konsensplatte, Meisterwerk, Meilenstein, Überflieger: Die Superlative für Kendrick Lamars „To Pimp A Butterfly“ hätten größer kaum ausfallen können. Endlich wieder eine Hiphop-Platte, die nicht einfach nur bekannte Genrezutaten wiederkäut und dabei sogar noch gleichermaßen Szenemenschen wie Pop-Publikum und sogar den ewig skeptelnden Indie abholt. Kann das gehen? Kann es. Was Kamasi Washington 2015 für den Jazz war, war Kendrick Lamar für den Hiphop: Eine Frischzellenkur voller toller Ideen und Einflüsse, auf die man sich problemlos einigen konnte, ohne dass es der kleinste gemeinsame Nenner gewesen wäre. Das ist aller Ehren wert.

Platz 12: And The Golden Choir - Another Half Life

Nach fünf Jahren Vorbereitungszeit erschien endlich das Debüt von Klez.e-Tobias Sieberts Solo-Kunstprojekt. Live spielte er seine ersten Konzerte mit Grammophon und Rotweinglas. Vom Plattenteller: Die Backing-Band, die er selber war. Alle Instrumente spielte Siebert selbst ein und ließ sie sich auf Vinyl pressen. Was schon als Projekt an sich unheimlich interessant war, klang im Ergebnis wie ein kunstvoll-kathartischer Mix aus Get Well Soon-Dramatik und in sepia getauchtem Indie-Gospel. Ein wundervoll-waidwundes Album, das immer noch nachstrahlt.

Platz 11: Sleaford Mods - Key Markets

Der Hype um die Sleaford Mods ging so schnell und unerwartet los, dass man ihn eigentlich erst auf Höhe des zweiten Albums „Key Markets“ so richtig auf der Höhe befand. Nur ein Jahr nach dem Debüt ließ das Duo die zweite Schimpfkanonade auf die Gesellschaft los: Bewaffnet mit einem Drumcomputer und gepfeffertem Piratenvokabular klatschten uns Jason Williamson und Andrew Fearn eine Ohrfeige nach der anderen, und selten hat sich das so korrekt angefühlt. Eine volle Breitseite für die Wichtigen Britanniens und ein Sprachrohr für den wütend-machtlosen Bodensatz der Bevölkerung.

Platz 10: Tocotronic - Das rote Album

Wenigstens Tocotronic! Angesichts der neuen Alben der Fehlfarben („Über…Menschen“) oder der Sterne („Flucht in die Flucht“) etwa konnte man in diesem Jahr die Hoffnung in die alten Eisen der Diskursmusik bald gänzlich verlieren, waren deren in den Songs und auf Konzerten verkörperten Haltungen eher unattraktiv bis krude und schien es so als würden ihnen die ganzen neuen deutschsprachigen Bands – einige davon wahrscheinlich sogar ihre ehemaligen Adepten – den Rang ablaufen. Tocotronic jedoch haben mit dem „roten Album“ (einmal mehr) gezeigt, warum sie immer noch wichtig sind. Das rote Album soll ein Album über die Liebe sein; entwickelt zugleich aus dieser Thematik auf unerwartete Weise aber auch politische Aussagekraft. Nicht bloß wird die Liebe zum Politikum erklärt, sondern es werden ihre Prinzipien als allgemeine Ideen zum Zusammenleben und zum Sozialen herausgestellt: das sich-Irren, sich-Öffnen, sich-Verschwistern beispielsweise. Die Musik und die Songs an sich kann man dabei vielleicht zu einfach, zu gefällig oder zu sauber finden – oder versuchen das zu schätzen. Es ist einfach nur Popmusik. (Aiva Kalnina)

Platz 9: Tame Impala - Currents

Psychedelic-Dance-70s-Soul-EDM-Whatever -  Kevin Parker hat mit seinem dritten Album unter dem Namen Tame Impala ein im wahrsten Sinne des Wortes nachhallendes Werk vollbracht. Waren das Debut „Innerspeaker“ und der Nachfolger „Lonerism“ noch von zeitweisen krautigen Redundanzen und verbufften Beat-Ausflügen geprägt, schält der Australier bei „Currents“ nur noch das satte, gelbe aus dem Disco-Ei. Eingängige, verhallte Hooks rekeln sich auf einem Flickenteppich aus Hippie-Elektronik und angezerrten Tieftönern. Als wäre Sound-Tüftler Dan Snaith mit Hilfe des Flux-Kompensator in die Motown-Studios gereist. Doch so weit muss die Klammer gar nicht gespannt werden. Auch in näherer Zukunft wurde gegrast und verwebt: „The Moment“ erinnert in seiner eingängigen Überpoppigkeit an das  Zoot Woman-Debut und „The Less I Know the better“ verfunkt ein Death From Above-Bassriff par excellence zum Tanzflächen-Smasher. Welches Jahr haben wir noch gleich? Egal: Parker widersetzt sich dem Raum-Zeit-Kontinuum und schafft mit „Currents“ Zeitloses. (Thomas Markus)

Platz 8: The Decemberists - What A Terrible World, What A Beautiful World

Ein Release aus dem Frühjahr, der uns seitdem begleitet hat, schmückt den 8. Platz unserer Charts. „What a Terrible World, What a Beautiful World“ konnte das Jahr schon im Januar für uns zusammenfassen und hat neben diesem wunderschönen Albumtitel alles eingehalten, was uns versprochen wurde. Los ging das Ganze nämlich schon im letzten Jahr, als „Make You Better“ dem kommenden Werk ein musikalisches Profil und mir einen wochenlang anhaltenden Ohrwurm verpasste. Ein gut gewählter Stellvertreter, der mittlerweile zu meinen persönlichen Lieblingssongs des Jahres zählt. Das Resultat ist ein Langspieler, der sowohl einen großen Konzertsaal als auch eine kleine Bar in seinen Bann reißen kann. Mit der Präzision die wir an The Decemberists so lieben, formulieren sie in ihrer reduzierten Sprache aus Folk und einem Hauch Country, was sie bewegt und beherrschen als eine der wenigen Bands die Kunst aus ganz wenig ganz ganz viel zu machen. (Stefan Kracht)

Platz 7: Desaparecidos - Payola

„Alte Liebe rostet nicht!“ – Dieses Sprichwort klingt abgegriffen. Irgendwie nach dem Griff in die Mottenkiste, nach Silberhochzeit, Phrasenschwein, Fußabtreter und Kaffeebecher. Und doch fällt mir kaum eine bessere Assoziation ein für den Moment, als ich im Juni diesen Jahres „Payola“, das Zweitwerk der von mir so verehrten Emocore-Band Desaparecidos, in den Händen hielt. Bereits mit den ersten Takten des Openers The Left is Right“ war sie zurück, diese Magie, die mich bereits 13 Jahre zuvor beim Vorgänger „Read Music. Speak Spanish.“ Im Handstreich erfasst hatte. Die Regler aufgedreht und schon rollte er heran, dieser ergreifend mitreißende Sound einer wunderbar polternden, scheppernden, knarzenden Band-Maschine, die nach all den Jahren so gut geölt wirkt, als hätte man Verschleiß, Rost und Kolbenfresser in der heimischen Garage in Nebraska gelassen. Tatsächlich leistet sich die Platte keine Aussetzer. Wirkt rund und spritzig wie kaum ein anderes Album in diesem Jahr. Großen Anteil an der Rasanz dieser Platte hat neben seinem kongenialen Partner Landon Hedges vor allem der Einfluss von Folk-Pop-Liebling Conor Oberst, der mit herrlich verzweifelt klingender Stimme, klugen Texten und einem feinen Gespür für Pop-Momente und hymnische Hooklines dem Gefährt aus dem (inzwischen) Hause Epitaph den letzten Drive gibt. (Jan Bruns)

Platz 6: Caspian - Dust And Disquiet

Caspian haben mit ihrem vierten Album das instrumentale Highlight in diesem Jahr geschaffen. Eigentlich keine wirkliche Überraschung, da sie auf ihren Vorgängern noch nie enttäuscht haben. Auch auf „Dust and Disquiet“ bestimmen ausufernde Sounds, träumerische Melodien und gewaltige Gitarrenwände das Geschehen. Wobei es auf dem Album insgesamt etwas ruhiger zugeht, was der Platte keineswegs schadet. Die Übergänge der Titel sind manchmal so klar und fliessend, dass man kaum mitbekommt wann ein Song endet und ein neuer beginnt. Genau das macht dieses schöne Album aus. Man begibt sich mit der Band auf eine Reise durch verschiedene Klangwelten. Caspian bedienen sich hierbei aus einem breitem Spektrum - von jazzigen Tönen, über Piano- und sanften Bläserklängen, hauchzarten Gitarren oder schallenden Klangteppichen ist alles dabei. Und wie auch auf dem Vorgänger, kommt bei einigen Titeln wieder Gesang zum Einsatz. Caspian machen mit diesem Album alles richtig und sind daher völlig verdient auf Platz 6 der Nillson-Charts! (Tilo Kracht)

Platz 5: José Gonzalez - Vestiges & Claws

Komischer Effekt: Obwohl der Argentino-Schwede José Gonzalez ja dank seiner zwei Junip-Alben und dem Walter Mitty-Soundtrack, wo man ihn deutlich als treibende Kraft hatte identifizieren können, gar nicht wirklich weg war seit seinem letzten Soloalbum „In Our Nature“, hatte schon die Ankündigung von „Vestiges & Claws“ etwas seltsam beruhigendes. Denn Herr Gonzalez musiziert alleine schon anders als im Bandformat; verfügt über diese spezielle Aura der Gelassenheit mit seinem genuschelten Gesang und den hübschen Gitarrenfiguren zur minimalen Perkussion, für die er in der Regel mit seinem Handrücken auf dem Instrument selbst sorgt. Nun: „Vestiges & Claws“ ist ein José Gonzalez-Album, wie man es hat erwarten dürfen, und das ist keinesfalls negativ zu verstehen. Der warme Sound des komplett in Eigenregie entstandenen Albums hüllt uns ein, kontemplativ und entspannt; Songs wie „With The Ink Of A Ghost“, „Every Age“ oder das finale „Open Book“ schmeicheln der Seele und lassen keinen Zweifel an der Wichtigkeit dieses großartigen Künstlers für die Musikwelt von uns allen. (Kristof Beuthner)

Platz 4: Rocky Votolato - Hospital Handshakes

Rocky Votolato kann man aufgrund der letzten Jahren bei weitem nicht als musikalisch inaktiv bezeichnen, doch trotz der vielen Konzerte ließen neue Songs und Tonträger leider auf sich warten. Schreibblockade. Depression. Eine schwere Zeit die lange unklar machte, ob und wie es überhaupt weitergeht. Diese Ungewissheit hat uns Hospital Handshakes zum Glück genommen und der grandiose 4. Platz nimmt schon vorweg, wie wir das finden. "Trust that everything happening’s perfect“ heißt es im ersten Refrain und klingt wie die Hymne des Albums, die sich als roter Faden durch die Platte zieht. Am Ende wird immer alles gut. Emotional, persönlich und oft sehr düster zieht es sich durchs Album, ist dabei aber niemals aussichtslos. Man spürt förmlich die Kraft, die er aus der Musik schöpf und in etwas Positives verwandelt. Oder anders gesagt: "We must each be broken, if we’re ever to be made new again". Wir sind froh, dass es weitergeht und bedanken uns für dieses Werk. (Stefan Kracht)

Platz 3: Courtney Barnett - Sometimes I Sit And Think, Sometimes I Just Sit

Courtney Barnetts Shows mussten ja schon in größere Clubs verlegt werden, bevor sie überhaupt ihr Debütalbum veröffentlichte. Und spätestens als der Titel ihrer ersten Langspielplatte feststand, wussten wirklich alle Menschen dieser Erde, dass Courtney Barnett die allercoolste ist. „Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit“ ist ein bisschen mehr Schweinerock als die Doppel-EP „A Sea of Split Peas“, aber Barnett bewegt sich lässigkeitstechnisch auch auf ihrem Debütalbum immer noch auf dem allerhöchsten Niveau. Ihre Intonation ist ungewöhnlich, ihre Texte wunderschön gelangweilt – in ihrer Banalität und Schmucklosigkeit aber durchweg genial und immer irgendwie überraschend. Die Probleme des Lebens in der zweiten oder dritten Pubertät bringt sie dabei ziemlich gut auf den Punkt: „I wanna go out but I wanna stay home“. Geht uns doch allen so. (Lydia Meyer)

Platz 2: Sufjan Stevens - Carrie & Lowell

Sufjan Stevens‘ Mutter Carrie ist tot und hinterlässt einen Berg voll Fragen und unverarbeiteter, keinesfalls bloß positiver Erinnerungen an eine Kindheit und einen Menschen, die unheimlich prägend waren für den Künstler. Und so schreibt er ein Album darüber, gibt seiner Trauer Raum, hadert, liebt und klagt. „Carrie & Lowell“ (letzterer ist Sufjan Stevens‘ Stiefvater) markiert seine Rückkehr zum Folk, zum Fragilen, zum Zerbrechlichen, wie man es zuletzt auf dem wundervollen „Seven Swans“-Album vor über einem Jahrzehnt von ihm gehört hatte. Nur zur Gitarre, hin und wieder kombiniert mit minimalsten Elektronikflächen, hat Stevens uns Song-Kleinodien wie „The Only Thing“ oder „Should Have Known Better“ geschenkt und nebenbei seine Seele gereinigt. Ein in höchstem Maße kathartisches Album, das nicht mehr auch nur das Geringste mit seinem flippigen Vorgänger „The Age Of Adz“ zu tun hatte. „Carrie & Lowell“ ist eine so bittere Platte, dass man sofort von ihrer intensiven Melancholie und den substantiellen Weltzweifeln in ihren Bann gezogen wird. Ein kleines, stilles Meisterwerk. (Kristof Beuthner)

Platz 1: The Slow Show - White Water

„Testing, testing, testing one!“ Den Titel „Band des Jahres“ vergeben wir bei Nillson zwar nicht, aber auch diese Auszeichnung hätten sich The Slow Show nach den letzten zwölf Monaten redlich verdient. Wichtigste Entscheidung seit Gründung der Band war wohl die Vertragsunterzeichnung beim Label Haldern Pop Recordings. Ein großes Glück. Seit Ende letzten Jahres waren The Slow Show somit auch auf deutschen Bühnen präsent. Wir erinnern uns an die großartigen Auftritte der Band beim Orange Blossom Special und beim Haldern Pop, begleitet vom Stargaze Orchester und dem Cantus Domus Chor. Im März erschien ihr umfeiertes Debüt „White Water“. Die Platte lässt uns auch neun Monate nach Veröffentlichung nicht los. Was bei anderen Bands Refrains sind, ist bei The Slow Show ein Teil der Strophe. Und wenn man denkt, der Zenith an Euphorie sei erreicht, wirft das Songwriting noch eine Schippe Orchestralität drauf. Wir wanken nicht. Wir taumeln ins neue Jahr mit einem Meisterwerk für die gesamte Dekade. Und wer stielt jetzt den gemeinsamen Auftritt mit Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern ein? „Can you hear me? 'Cos I'm calling you.“ (Daniel Deppe)


Einleitung und Kurztexte 30-11: Kristof Beuthner

Titelbild: Luc Viatour