Fundgrube 15.06.2014

WM schauen ist das neue Fleisch essen

Seit Donnerstag ist die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien in vollem Gange. Und mehr als je zuvor wird einem als Fußballfan die Frage gestellt, inwieweit es ethisch vertretbar ist, den (sportlichen) Geschehnissen am Zuckerhut zu folgen.

Spanien verliert gegen Holland sensationell mit 1:5? Egal! Fuck FIFA Mafia! Sie haben dem Spiel seine Unschuld geraubt; das sind korrupte Geldsäcke; sie stellen nun schon dem zweiten Land in Folge vollkommen überteuerte Fußballtempel in die Gegend, die danach nie wieder jemand benutzt! Schröpfen die Staatskasse dafür, obwohl es in Brasilien so bitterlich an guten Schulen oder Krankenhäusern fehlt; zwingen die veramte Bevölkerung zu Umsiedelungen! Vergeben die WM 2018 an ein Land, das Homosexuelle ächtet, und die WM 2022 an eines, in dem Stadionarbeiter wie Sklaven gehalten werden! Macht man sich durch das Zuschauen vor den Fernsehern oder meinetwegen auch den Großleinwänden nicht mitschuldig an all den Missständen, die der Weltfußballverband mit seinen völlig unverhältnismäßigen Ideen zu verantworten hat? Sind wir mit unserem hedonistisch anmutenden Bedürfnis nach großem Weltfußball-Entertainment nichts anderes als Elendsnutznießer?

Klar, sagen viele. Die Antwort ist aber in Wirklichkeit gar nicht so leicht zu finden. Und das Urteil über den Zuschauer am Fernsehbildschirm ist bei weitem nicht so einfach übers Knie zu brechen. Oh, und nicht zuletzt: Bei all der harschen Kritik, die derzeit durch die Medien und sozialen Netzwerke hallt, darf man auch nicht außer Acht lassen, dass die Empörung durchaus bei einem Großteil der Wortführer spätestens wenn Deutschland am Montag Portugal schlägt, wieder in das obligatorische schwarz-rot-geil-alles-andere-egal-Gefühl kippen könnte, das Modefans, Sich-in-der-Masse-Wohlfühler und Dabeiseinwoller alle zwei Jahre auf die Public-Viewing-Areas treibt und sie mit Macht zwingt, sich furchtbare Dinge wie Rückspiegelschoner in den Landesfarben zuzulegen oder sich mit Fanschminke anzumalen. Doch selbst dahingehend ist zu spüren: Es rührt sich etwas in den Köpfen der Fußballmenschen hier. Auch das happy Schlandgefühl ist nicht mehr das, was es 2006 mal war. Das Zauberwort heißt Overkill, der all den Deutschlandkommerz und all das Schlechte im Weltfußball, zu dem spätestens seit den Diskussionen um die WM 2022 in Katar so ziemlich jeder eine Meinung hat, nicht mehr so richtig verdecken kann.

In Brasilien gingen die Menschen schon beim Konföderationenpokal, der Generalprobe für die WM im Jahr 2013, so laut auf die Straße, dass die Proteste auch hier ankamen. Seitdem (spätestens) ist die Diskussion um den Weltfußball so präsent wie die um Veganismus statt Fleischeslust: Man ist als nachdenkender Mensch aufgefordert, sein Ethikbewusstsein zu hinterfragen, und man wird immer wieder mit dem Kopf knallhart auf diese Frage gestoßen. Und das ist gut und wichtig und richtig, denn wir leben in keiner Blase, sondern es geht uns alle etwas an. Darf ich Fleisch essen, wenn ich um das Phänomen Massentierhaltung weiß; wenn ich sicher sein kann, dass ein Tier für meinen Genuss hat leiden müssen? Darf ich mich mit Bier und Chips vor den Fernseher setzen und einem Turnier zuschauen, dass in seiner Aufgebauschtheit absurde Ausmaße angenommen hat, wenn ich weiß, dass ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung in Armut lebt und die Unsummen, die die FIFA in später leer stehende Stadien gepumpt hat, weitaus besser in Infrastruktur, Schulwesen und medizinische Versorgung investiert gewesen wären?

Ein weites Feld. Ich selbst, das ist vielleicht hier nicht unwichtig zu erwähnen, nähere mich solchen fußballerischen Großereignissen immer auf (m)eine ganz eigene Art. Ich erinnere mich - im ständigen Versuch, nicht meine Kindheitserinnerungen zu verklären und zu romantisieren - gerne an die WM 1990. Fußballerisch übrigens in weiten Teilen aus heutiger Sicht keine gute. Ich erinnere mich aber nicht daran wegen des Sieges der deutschen Mannschaft, das war mir damals schon egal, aber weil sich mir dadurch im Alter von 6 Jahren neue Welten auftaten. Ich häufte nun geographisches Wissen durch Kenntnis über Fußballnationalmannschaften und die Herkunft von Spielern an. Ich liebte das Sammeln von Panini-Bildchen, das Tauschen auf dem Schulhof, das Nachstellen der Spiele abends auf dem Bolzplatz nebenan mit meinen Freunden. Ich war fasziniert von den vielen jubelnden Menschen in den Stadien und auf den Straßen; ich hörte, wie in den kleinen, armen Ländern dieser Welt die Menschen bei einem Erfolg ihrer Mannschaft taumelten vor Glück. Ich war begeistert von den klangvollen Namen der argentinischen Spieler, von der Kunstfertigkeit im Spiel der Kameruner, von der Lockenpracht Carlos Valderramas. Ich hatte mit 6 Jahren noch keine Ahnung von den Regeln des Spiels, doch ich spürte diese totale Faszination des globalen Ereignisses. Eine Faszination, die ich in ihrer Unschuld bis heute aufrecht zu erhalten versuche.

Das heißt: Ich gehe Public-Viewing-Veranstaltungen und sogenannten "Events" weiträumig aus dem Weg; schaue bei Festivals lieber Bands als Großleinwand und probiere über die Overkill-Kommerz-Offensive von Supermärkten etc. hinwegzuschauen. Ich versuche, eine Welt- oder Europameisterschaft für mich persönlich zu einem erinnerungswürdigen Ereignis zu machen, weil ich ein Fan des Spiels bin. Dafür brauche aber auch ich durchaus ein stimmiges Drumherum. 2010 rekonstruierte ich zeichnerisch das Panini-Album (ich habe übrigens wieder angefangen zu sammeln und liebe die Aufregung beim Tütchen aufreißen), vor zwei Jahren erfand ich "Tofs EM-Studio", spielte die Begegnungen mit einem Super Nintendo nach, archivierte und kommentierte die fertigen Videos und veröffentlichte das Ganze bei Facebook. In diesem Jahr versuche ich, jeden Tag ein Gericht aus einem der Teilnehmerländer zu kochen, und wenn es nur ein kleiner Snack ist. Das macht mich nicht gleich zum Gutmensch; auch Panini-Alben und Videospiele sind letztlich Kommerz. Es ist kein Verhaltenskodex, der Nachahmer finden muss; es ist einfach mein persönlicher Weg, mir den kindlich-entspannten Blick zu bewahren. Ich möchte in den nächsten Wochen alle Spiele schauen, mitfiebern und mich dabei wohl fühlen.

Ich verschließe deswegen noch lange nicht die Augen vor den Missständen, die in Brasilien, Russland, Katar, vor vier Jahren in Südafrika oder vor zwei Jahren in Polen und der Ukraine herrschten (Stichworte: Julija Tymoschenko und die "Reinigung der Straßen" von streunenden Hunden mit fahrenden Krematorien). Allein: Ich möchte versuchen, das zu trennen und auf zwei verschiedenen Ebenen zu diskutieren, auch wenn mir klar ist, wie schwierig das zuweilen wird (und übrigens auch immer schon war, denken wir an die WM 1978 in Argentinien!), weil Fußball längst ein solches Massenphänomen geworden ist, dass die Rädchen hier stark ineinander greifen.

Vergangenen Mittwoch nun stand ein sehr interessanter Artikel im Dossier der Zeit. In Form eines Briefwechsels diskutierten dort die stellvertretende Chefredakteurin Sabine Rückert und der Kolumnist Harald Martenstein über eben diese Ethikfrage. Über die vollendete Kommerzialisierung des Fußballs; den Verlust der Unschuld, der schon lange, lange, lange im Fußballgeschäft Einzug gehalten hat, und über die eingangs formulierten Fragen. Beide führten starke Argumente an, doch einige davon ließen mich aufhorchen, einfach weil man viel zu selten fundierte Pro-Fußball-Argumentationen liest.

Da schrieb Harald Martenstein beispielsweise, dass er die Machenschaften der FIFA hart kritisiere, aber letztlich einen Boykott der Weltmeisterschaft nur dann als sinnvoll erachte, wenn sein Verzicht auch wirklich zu etwas gut sei. Zum Vergleich: Um gegen die Massentierhaltung zu protestieren, kann man weniger Fleisch essen und dabei darauf achten, dass es von glücklichen Tieren stammt. Oder eben gar keins mehr und sich statt dessen vegetarisch oder vegan ernähren. Fußballfans, für die eine Weltmeisterschaft immer noch auch einen sportlichen Reiz hat, haben diese Möglichkeit auf Methadon nicht. Und Sepp Blatter wäre von einem Verzicht auf Fernsehfußball sicherlich auch wenig beeindruckt. Er hält es auch durchaus für möglich, das Spiel zu lieben, aber die Entwicklung des immer groteskere Züge annehmenden Drumherum anzufeinden. So wie man als gläubiger Christ auch die Kirche kritisieren darf oder als Fleischesser die Massentierhaltung. Dass ihm Politik fraglos wichtig sei, schreibt er - aber er sich eben selbst auch und damit auch sein Vergnügen. Dass er die Ekstase, die Emotion, den Ausnahmezustand braucht, den ein solches großes Fußballturnier mit sich bringt, weil sich die Regeln des Alltags wieder leichter ertragen lassen, wenn man sie zwischendurch mal für vier Wochen hat aussetzen dürfen.

"Ist es möglich, durch rigorosen Verzicht auf alles, was Spaß macht, die Welt zu retten?", fragt Martenstein. Die Antwort muss sicherlich jeder für sich selbst finden, doch der rhetorische Schlag der Frage ist eigentlich eindeutig. Definitiv wird es nicht allein innerhalb dieser vier Wochen, in denen die WM stattfindet, möglich sein. Es geht ja auch eigentlich um ein grundsätzliches Denken; um grundsätzliche Ethikfragen, die man sich jeden Tag stellen muss. Und kann und sollte! Die Organisation "Social Pay Per View" bietet einen SMS-Dienst an, bei dem man vor den Spielen (aber auch sonst) pro Kurznachricht 5 Euro an ein eigens ins Leben gerufenes Projekt in Brasilien unter der Schirmherrschaft von Terre Des Hommes spenden kann. Nur mal so als Beispiel: Fußball schauen ja, soziales Bewusstsein und Engagement aber auch. Es ist möglich. Die Zustände in Brasilien sind auch außerhalb der Weltmeisterschaft relevant, genau wie es die in Russland, Katar oder der Ukraine sind. Sich nur als Kontrastprogramm zum Fußballfest darauf zu stürzen, ist scheinheilig.

So muss letzten Endes jeder für sich selbst wissen, inwieweit er seine Seele reinigen will. Fußball ist ein Geschäft, so ist es längst, und es wird sich vermutlich nicht ändern. Doch wie Martenstein vergleichend schreibt: "Wer soll die Kirche ändern, wenn nicht die Gläubigen?" Die Hoffnung bleibt, dass die Ethikkommission der FIFA Licht ins Dunkel bringt und den Laden neu sortiert. Man kann sein Vertrauen dieser Tage verlieren, aber aufgeben darf man nicht. Die Fans aber dürfen auch nicht so tun, als wäre nichts und sie nicht beteiligt. Sie müssen definitiv ein Bewusstsein dafür entwickeln, was da alles schief läuft in der Fußballwelt und was für Strukturen hinter Organisationen wie der FIFA stecken. Und sie dürfen keinesfalls die Allmachtsfantasien von Firmenmogulen, Vereinsbossen, Scheichen und Oligarchen gutheißen, die Fußballclubs wie ihr Spielzeug behandeln. Sie müssen ihre Meinung sagen dürfen und aufstehen und sich dagegen wehren, dass sie behandelt werden wie Konsumenten eines Produkts.

Aber: Sie müssen eben auch Fußball (und eben auch großen Fußball!) schauen dürfen, ohne sich dabei schuldig zu fühlen.



Text: Kristof Beuthner

Foto: sozialismus.ch