Ich mache gerne Fotos. Kennt ihr das? Also diesen Moment, wenn ihr über den Ith fahrt und sich das Weserbergland vor einem ausbreitet wie ein wunderschöner grün-gelb-blauer Teppich? Und ihr komplett Lust habt, mitten auf der Straße anzuhalten, auszusteigen und irgendwie zu versuchen, dieses wundervolle Naturpanorama auf die bestmögliche Weise in Ewigkeit zu bannen? Nein? Dann reist ihr aus einer anderen Richtung an. Die vielleicht genau so schön ist. Das kann ich nicht sagen. Was ich weiß: Der Weg ist so was von das Ziel. Und das Ziel ist so was von wert, erreicht zu werden.
Nach einer satten Stunde Stop and Go erreiche ich, die Augen (immer noch) wie in jedem Jahr akut verliebt auf das Grün, das Gelb und das Blau im Hintergrund gerichtet, das wie ein Instagram-Filter darüber hinweg täuscht, dass ich mich mittlerweile in einem per definitionem eher uncharmanten Industriegebiet in Beverungen befinde, das Orange Blossom Special, und heya!, I’m at home, Baby. Von einem Moment auf den anderen liegt die Woche hinter mir, die Müdigkeit, die Ausgelaugtheit, dieses der-Alltag-frisst-mich-lebendig-Gefühl. Ich bin wie jedes Jahr zu spät, aber Probe ist Probe. Wie immer empfinde ich das aber eher als eine Verstärkung des vielbeschworenen Zuhausigkeits-Gefühls, denn wenn ich mein Bändchen endlich angelegt habe, sind alle schon da. Warten auf mich. So fühlt es sich an, wenigstens. Der erste aus der Glitterhouse-Crew den ich treffe ist Yannick, und er sagt: „Willkommen zuhause!“ Wenn du so begrüßt wirst, nach einem Jahr nicht-sehen, nicht-spüren, nicht-da-sein, dann weißt du, dass es stimmt. Dass es zuhause ist, irgendwie.
Es schwingt immer wieder dieses Pathos mit wenn ich übers Orange Blossom Special erzähle, und jedes Jahr aufs neue zeigt sich, dass das okay ist. Für mich als Besucher, Gast, Freund, ist dieses Festival ein heimelig vorbereitetes Wohnzimmer, ein Ort an dem ich mich fallen lasse und abgebe, genieße und einfach nur passieren lasse. Das hat natürlich damit zu tun, dass ich nicht mein erstes OBS erlebe, ich hier Menschen kenne und sie mich. Dass man sich auf ein Wiedersehen freut, wahrhaftig und ehrlich. Aber das sind ja Stories, die auch jemand anderes erzählen könnte. Das geht ja jedem so, der irgendwann zum ersten Mal da war und dann ein Jahr später wiedergekommen ist. Und ein Jahr später wieder. Und immer wird es größer.
Damit meine ich nicht nur die euphorischen Momente der Wiedersehensfreude, des Wildseins und des Ankommens. Ich meine auch die kathartischen Momente, für die das Orange Blossom Special 2024 zum sechsundzwanzigsten Mal als ein Symbol gewordener Ort existiert. Das hinter sich lassen von schweren Zeiten, anspruchsvollen Gemengelagen und inneren Gebirgen, deren Überwindung hier einfach mal für drei Tage Pause machen darf. Dass dieser Ort das kann: So ein Geschenk.
Man spürt: Wir Pilgerer, wir Unsteten und Rastlosen, wir Vagabunden und Lebensabsolventen, wir brauchen diesen Ort, dieses Gefühl von Ankommen und da sein dürfen, von Akzeptiertsein und der Liebe einer ehrlichen, uneingebildeten, sich an sich selbst berauschenden Festival-Community. „Community“: Das wird ein Wort sein, das der diesjährige Surprise Act Alex Henry Foster fast mantraesk immer wieder beschwören wird, aber dass das hier einen Punkt trifft, ist nicht verwunderlich. Dass das Orange Blossom Special in diesem Jahr unter dem Motto „Herzensangelegenheit“ steht, ist konsequent wie überfällig. Acht Arme, neun Gehirne, drei Herzen: Das Mottotier Oktopus, liebevoll „Karla Mari“ getauft, bringt auf den Punkt mit ins Spiel, was man sich an diesem Pfingstwochenende zu besitzen wünscht, um all die Eindrücke zu verarbeiten. Spoiler: Wie in jedem Jahr gelingt das natürlich wieder nur mit reichlich Nachhall. Sie nennen es „Post-OBS-Blues“.
Schade eigentlich, dass das 3.500 Menschen fassende Festival auch in diesem Jahr nicht ausverkauft ist. Was ist nur während Corona mit den Leuten passiert? Während man sich davor dringend einen Wecker stellen musste um innerhalb der ersten Stunde nach Verkaufsstart einer der ersten zu sein bevor die (immer schon!) Herzensangelegenheit ohne einen stattfinden muss, gibt es auch 2024 wieder Tages- und Wochenendtickets an der Abendkasse. Findet gerade ein Generationswechsel statt und der zieht sich? Kann man von Festivals wie diesen müde werden? Was schwer vorstellbar scheint, ist hoffentlich nur Momentaufnahme. Denn zwischen all der Schönheit und dem Peace, Love & Mini-Calzone ist das OBS ja auch musikalisch immer wieder eine absolute Bank zwischen Bewährtem, Aufregendem und dann noch dem, was dir mit der vollen Kraft des Unerwarteten die Schuhe auszieht.
Während ich die großartige Mina Richman, Hot Wax und Stina Holmquist, allesamt voraussetzungstechnisch wie gemalt für das Orange Blossom Special (Alteingesessene werden mir da Recht geben), leider aufgrund meiner Anreisemodalitäten verpassen muss, freue ich mich, dass zur Begrüßung die großartigen YIN YIN mit ihrer Mixtur aus tanzbarem Ostasien-Psychedelic ein ambitioniert-spielfreudiges Feuerwerk abbrennen, das trefflich ohne Gesang auskommt und die eigentlich vorhandene Discofizierung (wie beim Appletree Garden 2019 gesehen und für äußerst gut befunden) ein bisschen hinten an stellt um mit etwas erhöhtem Kraut-Anteil auch die inneren Hippies einzufangen. Die Indie-Helden Muff Potter feiern ihre Rückkehr ins Rampenlicht mit allem, was sie Mitte der 00er auf sämtlichen (halbgroßen) Festivals unverzichtbar machte: Gestochen scharfe Alltagsbeobachtungen zu umarmenden Melodien als Quintessenz des Indierock. Und Lucy Kruger & The Lost Boys sind mit ihrem tiefdunklen, zwischen Drone- und Postrock-Elementen changierenden Sound ein absolut typischer Orange Blossom-Headline-Slot, der Routinierte endlos abholt und gleichzeitig den First-timern zeigt, dass ein Konzert im Glitterhouse-Garten immer nochmal eine ganz eigene Sache ist. Wer hier präsentiert wird, zu dem Zeitpunkt an dem er oder sie präsentiert wird, steht aus einem guten Grund genau hier im Timetable. Wie sehr die Planung von Rembert Stiewe immer wieder Sinn ergibt, zeigt sich eindrucksvoll in Momenten wie diesen. Ein betörendes Freitag-Abend-Erlebnis.
Der Rest ist wieder mal Geschichte. Ich liebe dieses Hängenbleiben und Verquatschen beim Orange Blossom Special einfach, wer noch hebe die Hand. Begrüßungsrunden kann man so akkurat timen wollen wie man denkt, sie arten immer aus. Wer schon am Vormittag oder sogar am Donnerstag bereits angekommen ist, hat mir gegenüber am Freitag einen entscheidenden Vorsprung. Mit einem Auge auf der Bühne und einem bei meinen Menschen geht der Tag zu Ende, er endet spät, es ist wundervoll. Diese Stimmung, dieser Sound, dieses Konglomerat aus genießen wollen und fallen lassen zieht innerhalb von Minuten. Ich kann diese Nacht gut schlafen.
Und wer bitte könnte charmanter in den Samstag geleiten als die wundervolle Malva? Schon 2023 war die Künstlerin für den Samstags-Eröffnungs-Slot eingeladen wurden, sie wurde leider krank und spontan von den großartigen Loki ersetzt, auch hier ist der Rest Geschichte (und das spielt später noch eine gewichtige Rolle). Aber nun steht sie da mit ihrer Band und präsentiert ihre wirklich äußerst lieblichen, dezent angejazzten Indiepop-Chansons, und die Welt ist grade gut. Richtig gut. Es folgt, und das ist OBS-typisch, der radikale Stilwechsel zum Noise-Gewitter von ZAHN, und was ist das? Krautrock? Postrock? Definitiv ist es laut, es ist zwingend, es ist brachial und faszinierend. Und ich erkenne mit doch einiger Überraschung, dass Felix Gebhard hier mitmischt, der in den mittleren 00ern als Home Of The Lame immerhin kurzzeitig des Grand Hotel van Cleefs Indiefolk-Darling war. Vielseitig, der Mann!
Es gibt nen Schwenk zu einem Programmpunkt beim OBS, den ich dieses Jahr zum ersten Mal wahrnehme, denn der hochgeschätzte Dirk Gieselmann liest aus seinem aktuellen Buch „Pearl Jam, oder: Du sollst keine gute Laune haben“. Also geht es zur kleinen Lesebühne auf dem nahe gelegenen Hof und mitten rein in eine verblichene Jugend auf dem Land und den Grunge als Katalysator für dieses einnehmende Gefühl, anders zu sein, in „Versteckte Kamera“ mit den Eltern am Samstagabend nicht die Erfüllung zu finden und den imposanten langhaarig-unangepassten Größeren auf dem Schulhof als auslösendes Element für die Ichwerdung hochzustilisieren. Das ist mit wehmütiger Träne im Knopfloch zum Glück auch sehr humorvoll, und als sich plötzlich die Schleusen öffnen und der Regen hereinbricht, muggeln sich alle im Stall zusammen und bekommen noch eine Bonus-Story von einer bedrückend endenden Feier-Renaissance in der Dorfdisco zu Gehör. Genauso verständnisvoll-umarmend, genauso wehmütig mit Träne im Knopfloch.
Gorilla Club bedienen auf der Minibühne währenddessen in zwei Slots diejenigen, die zum OBS ihre Kinder mitbringen. Was an wenigen Orten so gut funktioniert wie hier. Denn das „Kinderprogramm“ (obwohl es mir irgendwo widerstrebt es so zu nennen) ist zu keinem Zeitpunkt anbiedernd an älter und Familie gewordenes Festivalpublikum, sondern nimmt die kleinen Menschen zu jedem Zeitpunkt ernst und führt sie vorsichtig an eine Zukunft als Teil des großen Ganzen zu den „erwachsenen“ Bands heran. Gorilla Club, das sind eben durch und durch Locas in Love im Kinderbandkostüm, und die Songs sprühen vor Charme, Wortwitz und Ideenreichtum. Das holt auch die Eltern ab und ist eine konsequente Fortsetzung der im letzten Jahr mit dem Auftritt von Deniz und Ove eingeführten Idee, auch den „Kleinen“ musikalische Alternativen anzubieten.
Von meinem Lieblingsplatz auf dem Balkon aus genießen ich den nun folgenden Auftritt: Die dänisch-färöische Künstlerin Brimheim nimmt uns mit in seelische Abgründe, nicht selten fühle ich mich an die ikonische Kate Bush erinnert, aber da ist einfach noch so viel mehr Dunkelheit und Komplexität. Zwischendurch liegt Brimheim sekundenlang regungslos auf dem Bühnenboden unterm Kronleuchter, es ist ekstatisch und tiefgreifend, und „Can’t hate myself into a different shape“ ist einfach ein Wahnsinnssong für alle, die sich in sich nicht wohl genug fühlen um gesund zu sein, aber deren Trotz und Lebenswille am Ende hoffentlich gewinnt.
Dann erleben wir zwei absolut exemplarische Glitterhouse-Garten-Happenings: Den wunderbar schwelgerischen, auf den Punkt intensiven und gleichzeitig so leichtfüßig klingenden Americana-Indie-Pop von William The Conqueror und den eine kalte Hand um dein Herz legenden und dich trotzdem eskalieren lassenden Post-Punk von Gurriers. Beide Bands gewinnen sofort auf die ihnen sehr eigene Weise, bei letzteren gibt es Crowdsurfing-Ekstase obendrauf, und während William The Conqueror sicherlich besonders Traditionalisten mit einem wundervoll präzisen Auftritt in die Karten spielt, darf man ziemlich sicher sein, dass man von den Gurriers in Zukunft noch einiges hören darf. Da ist was in Bewegung, trotz der aus irischen und britischen Gefilden in den letzten Jahren nicht gerade spärlich gesäten Bands ähnlicher Lesart. In den Zwischenphasen schwingt sich übrigens ein guter Bekannter auf, das Sprungbrett von der Mini-Bühne auf die große Bühne ein zweiteres Mal zu nehmen: Tom Allen, nun ohne The Strangest, präsentiert in Duo-Besetzung als False Lefty ein weiteres Mal sein bewundernswertes Gespür für hochwertige Indiepop-Dringlichkeit und ich lehne mich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster wenn ich sage: Diese Band werden wir hier bald wieder sehen.
Es kommt nun zu einem magischen OBS-Moment: Catt betritt die Bühne, verstärkt um eine unglaublich intensive Band und als Multi-Instrumentalistin gesegnet mit ungeheurem Talent und einnehmender Präsenz. Rembert sagt eingangs, ihr Konzert beim Eurosonic in Groningen sei eines der zehn besten Konzerte gewesen die er in seinem nicht gerade konzertarmen Leben genießen durfte, und man glaubt es ihm sofort, so himmlisch schwelgt diese Frau in gefühlsgeladenem Breitwand-Pop. Es ist eine Offenbarung und der Garten schweigt, genießt, gibt sich hin. Es ist ganz ohne Frage das Konzert des Tages.
Dass The Holy im Anschluss keinen schweren Stand haben, liegt an der Anpassungsfähigkeit des OBS-Publikums und, ganz klar, auch an der eigenen Qualität. Die Finnen waren 2019 schon hier und auch das war schon groß, aber innerhalb dieser letzten fünf Jahre hat die Band nochmal an Tension nachgelegt. Jeder Song ein Punch, ob Post-Punk-drängelnd oder in ruhigen Phasen schwelgerisch tief, zwischen großen Hymnen und ausladenden Sphären: Diese Band findet immer ihre Mitte. Ein mehr als würdiger Samstags-Headliner.
Das OBS ist bekannt für seine Geschichten, und eine weitere passiert am Sonntagmittag. Spekulationen hinsichtlich des obligatorischen Surprise Acts gab es reichlich, zwischen den Giant Rooks, Locas in Love (wegen Gorilla Club) oder den wieder erweckten Golden Kanine gab es reichlich, doch hier passiert heute ein direkter Bezug zum 2024er-Motto, der ergreifender kaum sein könnte. Denn nach einer langen Auszeit aufgrund einer lebensbedrohlichen Herz-Operation gibt sich der grandiose Alex Henry Foster die Ehre für eine Comeback-Show im Garten, und das geht nicht nur aufgrund der Umstände tief. Schon bei seinem 2022er-Stelldichein war der Kanadier verantwortlich für staunende Gesichter und allerhöchstmögliche Intensität mit einer unfassbar tighten Band und Songs, die wie ausufernde Jams nicht selten die zehn-Minuten-Marke knackten, irgendwo zwischen Ambient, Post Rock und Dark Jazz, flankiert von kathartisch-dunklen Lyrics die bisweilen wie ein Poetry Slam wirkten. Er kriegt es ein weiteres Mal hin. Ja, die Exaltiertheit mag bisweilen den Duktus eines Predigers annehmen wenn Foster immer wieder beschwört, dass die Community (da sind wir wieder!) und die Liebe der Schlüssel zu allem Unbill der Welt ist („We don’t need bombs, we don’t need guns! We are community, we are family!“). Aber es schwingt auch eine in jeder Hinsicht einnehmende Überzeugung in seiner Präsenz und seinem Charisma mit. Wenn er sich abermals zu ausufernden Crowdsurfing-Phasen (die Rückkehr zur Bühne geschieht thronend auf einem spontan bemühten Campingstuhl, auf dem beim Wegrutschen der Decke eine pinkärmelige College-Jacke zum Vorschein kommt) aufschwingt, kann man das nur als einen unnachahmlich guten Schachzug werten, diesem Menschen genau in dieser Phase seines Lebens genau diesen Ort zu gönnen. Hier gehört alles zusammen und alles ist im Einklang. Großes, großes, großes Kino.
Während sich nunmehr der Himmel öffnet und es viel zu lange sehr intensiv zu regnen beginnt, betritt in Marlo Grosshardt ein junger Künstler die Bühne, von dem wir absolut noch hören werden. Seine Indie-Chansons, die nicht selten an den großen Faber (auch einst Gast im Glitterhouse-Garten) erinnern, vereinen Charme mit Haltung und musikalische Finesse mit Mitsinghymnen à la „Christian Lindner“, bei denen das Publikum sich trotz Wetter singend in den Armen liegt. Das Comeback von Ivan Carvalho als Afrodiziac gerät anschließend zu dem ausufernden Rock-Rausch, den es im vergangenen Jahr schon versprochen hatte. Nun mit fast noch mehr Raffinesse, noch mehr Dringlichkeit und noch mehr Energie. Das ist einfach ein hochfaszinierender Gesamtkonzept-Künstler, dessen wilde Mixtur aus Grunge-Roughness und dem Vibe ausufernder Rock-Jams ein weiteres Mal restlos überzeugt. Im Anschluss: Wieder ein Stilwechsel, wieder großartig. Die wunderbaren Indiepop-Songs von Brockhoff mögen inzwischen auf Festivalbühnen hierzulande bekannt sein, sie sind aber hier und an dieser Stelle ein weiterer Beleg dafür, dass manches im Glitterhouse-Garten einfach anders und intensiver wirkt. Man wünscht sich diese unheimlich klug geschriebenen Indie-Pop-Songs als Soundtrack für lange Autofahrten mit Blick in die Weite, das ist sehr zwingend und raumgreifend, ein Genuss.
Ich hatte in meinem Preview-Artikel schon gemutmaßt, wann ich wohl bei diesem feinen Lineup dazu kommen würde etwas zu essen; bei Iedereen ist es soweit, sorry. Dafür wartet danach eines meiner absoluten Wochenend-Highlights. Kurzer Recap: Als Loki 2023 für die krank gewordene Malva einsprangen, lag ihnen der Garten schon zu Füßen. Das gehörte hierher, das war wie gemacht fürs Orange Blossom Special. Mit acht Musiker*innen auf der Bühne war es da schon ein Indiefolk-Fest, fein arrangiert und auf den Punkt liebenswert zwischen hymnisch-elegischen Tunes und kleinen Indie-Pop-Hymnen, und nun, wo diese Band hier ein Jahr später wieder stehen darf, wirkt sie gereift und noch größer, drapiert ihre wundervollen Preziosen noch strahlender in den Sonnenuntergang, hat mit „St. Francis“, „Dreams“ und „Suzanne“ auch noch veritable Hits im Gepäck und verzaubert ein Publikum im Handumdrehen. So geht große Geste ohne schon so richtig groß zu sein, so geht Liebe, so geht Energie und ja, so geht Orange Blossom Special. Das war denkwürdig.
Und während ich Coach Party leider aufgrund eines erneut auftretenden akuten Hungergefühls verpasse, wirft das größte Ereignis des Wochenendes sowieso schon seine Schatten voraus. Denn zum Abschluss dieser wunderbaren Auszeit vom Alltag warten The Slow Show, die 2015 für so viel Tränen sorgten, die selbst so ergriffen waren von der Hingabe dieses einzigartigen Settings und die jetzt wieder da sind, und das muss man kurz wirken lassen. Klar hätte es sein können, das diese tief berührenden, malerischen, theatralischen und nach wie vor durch den unvergleichlichen Bariton Rob Goodwins in so himmlische Gefilde getragenen Katharsis-Kleinodien nicht ein zweites Mal einen so unwiderstehlichen Sog entwickeln zu dem sich neben und vor der Bühne tränenreich in den Armen gelegen wird. Doch: Sie tun es.
Ich, personally, weine gar nicht bei ihrem größten Song, der mich ja auch immer noch abholt, „Bloodline“ meine ich, das geht schon immer noch ganz, ganz tief. Die Tränen laufen bei einem anderen Stück und bei den Zeilen „I’m proud of you boy, look how far you came, proud of who you are, happy how you changed“. Oh, ich weine sehr. Wenn wir uns in diesem Moment einer Sache bewusst sein dürfen, dann dieser: „This is no ordinary life“.
Die Liebe zu einem ganz besonderen Gemeinschaftsgefühl hat uns hier hingebracht, mit einem Gefühl, an dem wir uns berauschen können. Dürfen. Sei es auf eine Weise so, dass das OBS-Publikum sich gerade für diese Eigenschaften der Offenheit, der Hingabe, des intensiven Fühlens rühmen darf, und dass sich daraus inzwischen auch eine gewisse Eigendynamik, ja: ein besonderes Commitment entwickelt, dann ist das was gutes. Was immer diesen Ort zu einem so wichtigen macht, es hat seine Gründe, und die sind individuell und nicht zu hinterfragen. Sie sind da. This is no ordinary life. This is no ordinary festival. Das kickt so sehr in diesem Moment. Die Verbundenheit der Band zu diesem Ort, die Rob Goodwin in wahrhaftige, herzergreifende Worte kleidet: Wir fühlen sie jetzt grade alle, und das OBS-Publikum genießt auf bewundernswerte Weise stillschweigend. Nein, this is no ordinary life. And this is no ordinary place. Was für ein grandioser Abschluss eines Wochenendes, aus dem knapp 3.000 Menschen wieder ein Jahr lang zehren werden. Nach Ende des Drei-Tages-Witzes (extrem viel Exposition, extrem kurze Pointe!) und dem Verklingen von "Es müsste immer Musik da sein" blicke ich in viele nachdenkliche, kurz in sich gekehrte Gesichter. Menschen, die sich umarmen und ein Weilchen festhalten, weil der Moment so kostbar ist. So viel wie möglich noch einsammeln, bevor es erstmal wieder zu Ende ist und wir wieder zu Unsteten und Rastlosen, zu Vagabunden und Lebensabsolventen werden.
Dass der vielzitierte Post-OBS-Blues schon auf der Rückfahrt kommt, in einer übermannenden Mixtur aus Müdig- und Traurigkeit: Es ist ja kein Wunder. Das war wieder viel, Gott sei Dank viel Schönes. Viel Aufladung, Zuhausigkeit, „Community“, hallo Alex Henry Foster. Der Glaube daran, dass die Welt kein schlechter Ort sein kann, wenn es Zusammenkünfte dieser Art gibt, lebt. Angesichts all der globalen Katastrophen, den inneren noch dazu, wirkt es wichtiger denn je. Pathos hin oder her, aber what's true shall be true forever.
Es mag andere Festivals geben, die aufgrund ganz unterschiedlicher Umstände ein ähnliches Gefühl der Wärme evozieren. Es ist nicht weniger wichtig. Hier in Beverungen, of all places, darf die Welt für drei Tage eine andere sein. Und jeder, der in diesem Jahr gezögert hat, soll alle Freiheit haben, es sich im nächsten Jahr anders zu überlegen.
Wenn wir wieder da sind. Wir, mit unseren mindestens 5600 Armen, 2800 Gehirnen und Herzen. Was ich weiß, ist: Sie strahlen zusammen heller. Dieses Wochenende war wieder mal ein eindrucksvoller Beweis.
Text und Bild: Kristof Beuthner