Das schönste Septemberwochenende des Jahres ist immer zugleich auch das herausforderndste. Zwischen Knust und St. Pauli-Kirche läuft man sich wunde Füße, aber weite Herzen. Das Reeperbahn Festival 2023, das nun endlich wieder ganz und gar beschränkungsfrei stattfinden konnte, ließ mal wieder keinerlei Wünsche offen - außer vielleicht den nach einem Teleporter, verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen und noch mehr eigener Energie.
Wo fängt man an, die Geschichte dieses Wochenendes zu erzählen, wenn es doch so viele gibt? Beginnen wir mit einer Rückkehr. Zum ersten Mal seit 2019 sind nämlich der Kaiserkeller, die Große Freiheit 36 und die Prinzenbar wieder offizielle Spielstätten des Reeperbahn Festivals. Ihr erinnert euch? Während der Corona-Pandemie boten die Betreiber auf großen Stellwänden die Möglichkeit, seine Gedanken zur (politischen) Lage öffentlich kundzutun und nahmen die Freiheit der sich Mitteilenden dabei sehr ernst, sodass auch verschwörungstheoretische Corona-Leugner-Ergüsse nicht reglementiert wurden. Daraufhin kündigte ein großer Teil der Kulturszene Deutschlands im Allgemeinen und Hamburgs im Speziellen die Zusammenarbeit auf. Nun sind diese drei traditionsreichen Clubs nach Betreiberwechseln wieder mit von der Partie – recht kommentarlos, und vielleicht ist das auch okay so. Dass ich in keinem der drei ein Konzert angeschaut habe, liegt dabei nicht etwa daran, dass ich nachtragend wäre – es gab einfach so herrlich viel anderes zu sehen.
Die Awards zum Beispiel, die Jahr für Jahr auf dem Reeperbahn Festival verliehen werden. Da wäre zum Beispiel der Helga!-Festivalpreis, der im letzten Jahr vom kuscheligen Imperial-Theater in ein recht steriles Stangenware-Messezelt umgezogen war, was die Stimmung unter den Zuschauenden doch etwas trübte. 2023 nun steht im Festival Village ein Spiegelzelt, wie wir es etwa aus Haldern oder vom Appletree Garden kennen, und bietet den Festivalschaffenden und Laudator*innen ein endlich wieder angemessenes Ambiente. Veranstaltet vom wunderbaren Höme- bzw. Infield-Magazin gibt es wieder fünf Kategorien: „Grünste Wiese“, den Preis für das nachhaltigste Festival, den das wunderbare Norden Festival bekommt; „Höchster Hürdensprung“, den Die andere Seite der Welt (leider nie davon gehört) gewinnt; die „Reichhaltigste Reichweite“ (for whatever that means), die das kleine Pferdefestival für sich beanspruchen kann; dann noch die „Gemischteste Tüte“, die nach Beratung der Jury das Umsonst & Draußen Festival Würzburg bietet, und schließlich das „Feinste Booking“, das man 2023 beim Nürnberg Pop serviert bekommt. In der Königskategorie „Bestes Festival“ setzt sich einmal mehr das Open Flair gegen eine starke Konkurrenz (Watt en Schlick, Orange Blossom Special oder Ab geht die Lutzi!) durch, und ich glaube wirklich, dass ich mir das endlich mal live und in Farbe anschauen muss.
Traditionell viel musikalisches zu entdecken gibt es beim ANCHOR-Award, der den bzw. die beste Newcomer*in auszeichnet. Dabei gab es durchaus eine überraschende Gewinnerin: Gegen u.a. Berq, Daisy the Great oder Paris Paloma setzte sich nämlich die Japanerin Ichiko Aoba durch, und das ist schon klanglich ein besonderer Griff in die Schatzkiste. Fernab von allen derzeit gängigen Pop-Konventionen präsentiert sich hier nämlich eine Reise in bildreiche, cineastische und versponnene Soundgefilde aus Gitarre, Klavier, Blockflöte und Akkordeon, meisterhaft und wunderschön, aber eben auch sehr besonders. „Unsere Gewinnerin transportiert uns in ein zeitloses Japan und kreiert ihr eigenes Universum mit ihrem Talent und ihrer Kunst“, sagt Jurypräsident Tony Visconti, und da kann man nicht widersprechen. Der Keychange Inspiration Award geht in diesem Jahr an die Rapperin Ebow, die mit mächtig viel Haltung in ihren Texten gegen Sexismus, Rassismus und Homophobie aufsteht. Damit ist sie eine äußerst wichtige Repräsentantin der PoC- und Queer-Community innerhalb der HipHop-Szene und darf sich selbst als großes Vorbild verstehen.
Dass ich am Ende keine der ausgezeichneten bzw. nominierten Bands und Künstler*innen zu sehen bekommen habe, spricht eigentlich nur mal wieder dafür, wie wahnsinnig viel Qualität und Entdeckenswertes es in den vielen Spielstätten des Reeperbahn Festivals zu bestaunen gibt. Und dabei gilt wie in jedem Jahr, dass Pläne machen zwar schön ist, aber doch nur eine grobe Orientierung bieten kann. Tagesform, Zeitmanagement, Spontaneität und erzwungene Flexibilität wegen plötzlichen roten Ampeln in der Festival-App, die dir zeigen, dass der Club deiner Wahl dich leider nicht mehr reinlassen wird (da hilft dann auch der respektvollerweise nur in den allerhöchsten Notfällen genutzte Delegates-Bonus nichts mehr).
Und so beginnt der Mittwoch für mich nach einem anstrengenden Arbeitstag mit etwas ruhigem. Namentlich mit der Schottin Katie Gregson-Macleod im Moondoo, die zwischen Klavier und Gitarre wechselnd wunderbare Lieder über die Liebe, das Leben und verpasste Chancen singt, die gleichzeitig einfühlsam und kraftvoll klingen und von höchst sympathisch-unterhaltsamen Ansagen eingeleitet werden. Von dieser Frau möchte ich gerne mehr hören. Die Irish Folk-Punk-Ekstase von The Mary Wallopers im Molotow klang beim Reinhören (trotz hohem das-hab-ich-doch-schon-mal-gehört-Faktor) sehr nett, ein kurzer Blick in den wie immer rappelvollen Club genügt aber. Das haut mich nicht vom Hocker. Klar bieten auch die Cucamaras im Backyard nichts neues; das ist wütend gebellter, sehr britischer Postpunk mit reichlich Attitude – diese Quelle scheint einfach nicht zu versiegen. Das ist gut, aber nichts, was sich mir ins Gedächtnis brennt. Ich bleibe für vier Songs und mache mich auf den Weg in die St. Pauli-Kirche.
Dort warten zwei absolute Lieblinge und inzwischen schon sehr lange Wegbegleiter auf mich, Francesco Wilking und Moritz Krämer nämlich, die mit Artur & Vanessa schon wieder ein neues Projekt am Start haben (die beherrschen das mit den verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen scheinbar deutlich besser als ich). Die dazugehörige neue Platte erzählt die Geschichte eines reichen Jungen, der ausbrechen will, und einem Mädchen, das ihn herausfordert – und wie sie sich finden und wieder verlieren und einen Freizeitpark für alle gründen. Die Kirche ist für den neuen Bandsound zwischen Indie Pop, Jazz und Kammermusik-Elementen natürlich eine Location wie gemalt. Das hat eine unfassbare Leichtigkeit und strahlt vor erhabener Schönheit. Leider kommen die Vocals nur sehr undeutlich durch, und das ist wenn einem eine Geschichte erzählt werden soll doch ganz schön schade. Aber dafür soll man ja auch Platten kaufen und sich zuhause in Musik fallen lassen, und das sei hiermit ganz ausdrücklich empfohlen.
Die folgende Wartezeit überbrücke ich mit einem kurzen Snack bei Holy Dogs (der Santamaria mit Beef Roll, Salsa und Guacamole gehört immer noch zu meinen absoluten Festivalfood-Favourites) auf dem Spielbudenplatz und entdecke auf dem Bavaria-Showcase in der (übrigens öffentlich zugänglichen) Spielbude XL wunderbar treibende, sehr versierte und in jeder Hinsicht mitreißende Live Electronics im Bandformat von Aera Tiret, die ich mir sehr gut auf den After-Headliner-Slots meiner liebsten Boutique-Festivals vorstellen kann. Großes faszinierendes Kino ist das. Zum Abschluss des Abends geht’s ins Klubhaus St. Pauli, genauer gesagt ins UWE, denn dort spielt Flawless Issues aus Stuttgart, der es sich vermeintlich leicht macht: Seine Songs klingen beinahe durchweg 1:1 nach Edwin Rosen, sänge der englisch. Nicht umsonst stehen die Indie Kids mit den Rosen-Shirts ganz vorne und tanzen zu dem natürlich qualitativ total hochwertigen New-NDW-Postpunk-Mix, angetrieben von einem Künstler, der ohne Band, sondern mit Musik vom Rechner augenscheinlich sehr viel Spaß hat. Schade, dass er seinen besten Song „Alone Tonight“ (Anspieltipp!) gleich als allererstes spielt.
Weil ich erst zu spät wieder auf den Weg nach Hamburg komme, bleiben mir vom hochgeschätzten Dutch Impact-Showcase nur noch zwei Bands übrig. Der sonnendurchflutete Indie Pop von Loupe klingt sehr facettenreich und originell, aber ich muss erst ankommen. Von Tramhaus aus Rotterdam hatte ich ein weiteres Postpunk-Tableau erwartet, doch so einfach ist es nicht. Das Ganze wird nämlich angereichert mit treibendem Indie Rock und Hardcore-Elementen und dargeboten von einem höchst energiegeladenen Frontmann mit Mick Jagger-Gedächtnisfrisur. Das geht sehr gut klar; wenn es gut läuft, sieht man diese Band im nächsten Sommer wieder. Doch nun begebe ich mich erstmal gemütlich ins Festival Village, genieße die Helga!-Verleihung und treffe Freunde und welche, die es werden könnten. Diese Pausetaste gefällt mir.
Was dann folgt ist ein absolutes Festival-Highlight: Den wirklich äußerst sympathischen Orbit hatte ich schon länger auf der Rechnung, fand allerdings weder die Zeit mich mit seiner Musik eingehender auseinanderzusetzen noch sie live zu erleben. Das hole ich jetzt in der Batcave, Verzeihung, im Mojo nach – und genieße jede Sekunde. Elektronischer Bedroom-Pop, der trotz seiner Zurückgenommenheit die ganz große Geste kann und dabei auch noch mit wirklich richtig guten Songs aufwartet („Friday Night“ bitte mal anspielen!): Das ist vom ersten bis zum letzten Ton wunderbar. Und die Dankbarkeit von Marcel Heym, Musik – im Staff organisiert von den Freunden, mit denen seine Geschichte begann – zu seinem Lebensinhalt machen zu dürfen, ist absolut authentisch und berührt. Dass Orbit tatsächlich bald eine Europa-Tour spielen darf, ist ihm so umso mehr zu gönnen. Da ist ganz viel Demut und ganz viel Talent, was für ein wichtiger Mix. Platten mitgenommen. Ehrensache.
Im Festival Village statte ich dann den Hansemädchen einen kurzen Besuch ab. Die Chorschwestern vom Kiez gehen grade ziemlich steil, seit sie zusammen mit Axel Bosse für „Ein Traum“ beim Hurricane Festival auf der Bühne standen, einen mächtig starken Camping Ground Gig inklusive. Nun müssen sie leider gegen KIZ anspielen, die nebenan als Surprise Act das große Geschütz auffahren, aber die Energie ist groß, der Sympathiefaktor auch, und mir gefällt sehr dass dieser Chor nicht auf akribische Perfektion, sondern auf Unity und Spaß setzt. Das kommt 1:1 an. Ich komme im Anschluss nicht an, also nicht rechtzeitig. Die Ampel fürs Molotow springt auf Rot. Keine Chance, Paerish zu sehen, auf die ich mich heftig gefreut habe. Also trete ich den Heimweg an: Ich habe alles vom Tag gehabt und muss schließlich morgen früh wieder arbeiten.
Der Freitag steht ganz im Zeichen des Indie Pop und beginnt im Spiegelzelt mit Neeve aus Stuttgart, die sich ein wenig so anhören wie die Giant Rooks mit lauteren Gitarren. Sommerlicher Feelgood Pop, macht großen Spaß. Genau wie Whammyboy auf der Fritz Kola Bühne, von dem ich der Beschreibung nach mäandernden Psychedelic-Pop à la MGMT oder Empire Of The Sun erwarten sollte, der aber mit treibenden Beats und mitreißenden Songs im Festival Village die Indie Disco eröffnet. Ein kurzer Blick zurück ins Spiegelzelt zu Dekker mit seinem hochsympathischen Folk Pop, ich geh in Gedanken zu den besten Strandmomenten des Sommers zurück, immer wieder ein Genuss. Und dann geht es ins Drafthouse zu den hierzulande noch sträflich unbekannten Briten von Kawala, irgendwo zwischen Folk und Beach Pop, mit zweistimmigem Gesang und unfassbar catchy Songs, überaus harmonisch und treibend, ein wahnsinnig starkes Konzert. Das hatte ich mir auch von den Flyying Colours in der SkyBar erhofft – dass es dazu nicht kommt, liegt an einem der ehernen Reeperbahn Festival-Gesetze, in dem wunderbare Wiedersehensfreude mit guten Freunden gefälligst zu mindestens einem Konzertabend-Abbruch führen muss. Und so ist es auch gut.
Nach einem wirklich wichtigen ersten Ausschlafen seit Tagen steckt wie immer am Festivalsamstag die Woche in den Knochen und das Energielevel hat sich irgendwo in der unteren Hälfte eingependelt. Zeit also, sich gemütlich mit einem Kaltgetränk vor den kleinen Open Air Bühnen zu positionieren und noch ein paar Eindrücke mitzunehmen bevor das schönste Septemberwochenende des Jahres endet. Erwartungsgemäß holt mich der Berliner Rapper SQF2000 überhaupt nicht ab. Das heißt: Die Beats schon, die sind grandios, aber die Texte brauch ich nicht. Also auf zum N-Joy-Reeperbus, wo man Bands und Künstler*innen des Tages in appetitlichen 15-Minuten-Häppchen serviert bekommt und zwischen den Acts immer so viel Pause hat um sich ein neues Getränk zu holen. Dort begegne ich dem blutjungen Songwriter TJARK, der zwar irgendwie genau den Indie Pop macht, den in Deutschland gerade alle machen, wenn sie nicht Edwin Rosen nacheifern; selbstreflektierende Texte, ein Trennungs-Lied (insert Mädchenname of choice here, in diesem Fall ist es Isabell) und innere Zerrissenheit, alles da. Was TJARK aber auszeichnet ist, dass er tatsächlich gute Lyrics und wirklich gute Songs hat und auch solo am Klavier ausgezeichnet funktioniert. Von dem wird man noch ganz viel hören und sehen, das ist felsenfest sicher. Es folgen Durry aus Minneapolis, die anscheinend einen durch TikTok befeuerten Hype erleben – hört man diesen sehr klassischen Mix aus College Punk und Emo Pop, hier lediglich mit zwei Gitarren dargeboten, darf man darüber schon überrascht sein, dass so etwas heute noch zieht. Aber die Songs sind super, der Sympathiefaktor hoch. Das geht schon in Ordnung so!
Die darauf folgende Pause verbringe ich beim Lieblings-Inder, der aber nur noch Plätze draußen hat – wo ich leider plötzlich im Regenguss sitze. Danach ist alles kalt (mein Essen auch) und die Müdigkeit liegt tonnenschwer auf meinen Schultern. Und ich treffe eine Entscheidung, mit der ich wohl auch nicht alleine bin: Ich lasse die vergangenen Tage und die vielen Konzerte, Begegnungen und Schritte Revue passieren und finde, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, einfach nach Hause zu fahren. Ein letzter kurzer Blick auf die Spielbude XL und die Show von Chinchilla – guter, energiereicher Mix aus Pop, Rap und EDM, unterbrochen von Gesängen der sich auf dem Kiez für den Abend stärkenden Schalker Fans, die am Abend am Millerntor beim FC St. Pauli gastieren – und dann geht’s in die Bahn.
Das Reeperbahn Festival hat mal wieder alles gegeben um meine Sinne zu beschäftigen und mich Inspiration tanken zu lassen. Der Ausflug in die unumgängliche Vollüberreizung ist ein weiteres Mal nicht weniger als eines der größten Highlights des Jahres zu bezeichnen – die soziale Batterie kann man überhaupt nicht schöner leer ziehen als an diesem Wochenende in Hamburg. Tolle Konzerte, viele Überraschungen, viel entdeckt, in Gesprächen verloren, wenig geschlafen, alles gehabt: Danke, dass es das gibt!
Und ich freu mich jetzt schon unglaublich aufs nächste Jahr.
Text: Kristof Beuthner